Auf dem Staatshof | Page 4

Theodor W. Storm
an der offenen Tür
gesessen.--Anne Lene war unbemerkt herangetreten. Noch sehe ich sie
vor mir, die kleine leichte Gestalt, wie sie ruhig auf der Schwelle stand,
den Strohhut am Bande in der Hand hin und her schwenkend, während
die Sonne auf das goldklare Haar schien, das ihr in kleinen Locken um
das Köpfchen hing. Sie nickte mir zu, ohne weiter heranzutreten, und
sagte dann: "Du solltest hereinkommen!"
Ich kam noch nicht; meine Augen hafteten noch an dem weißen
Sommerkleidchen, an der himmelblauen Schärpe und zuletzt an einem

alten Fächer, den sie in der Hand hielt. "Willst du nicht kommen,
Marx?" fragte sie endlich, "Großmutter hat gesagt, wir sollten einmal
das Menuett wieder miteinander üben."
Ich war es wohl zufrieden. Wir hatte vor einigen Wochen in der
Tanzschule diese altfränkischen Künste auf den gemeinsamen Wunsch
der Frau Ratmann und meines Vaters mit besonderer Sorgfalt eingeübt.
Wir gingen also hinein; ich machte meine Reverenz vor Anne Lenes
Großmutter und trank, um mich schon jetzt meiner zierlichen Partnerin
würdig zu zeigen, meinen Kaffee mit besonderer Behutsamkeit.
Späterhin, als mein Vater ins Zimmer getreten war und sich mit seiner
alten Freundin in geschäftliche Angelegenheiten vertiefte, nahm meine
Mutter uns mit in die gegenüberliegende Stube und setzte sich an das
aufgeschlagene Klavier. Sie hatte den "Don Juan" aufs Tapet gelegt.
Wir traten einander gegenüber, und ich machte mein Kompliment, wie
der Tanzmeister es mich gelehrt hatte. Meine Dame nahm es huldvoll
auf, sie neigte sich höfisch, sie erhob sich wieder, und als die Melodie
erklang: "Du reizest mich vor allen; Zerlinchen, tanz mit mir", da
glitten die kleinen Füße in den Korduanstiefelchen über den Boden, als
ginge es über eine Spiegelfläche hin. Mit der einen Hand hielt sie den
aufgeschlagenen Fächer gegen die Brust gedrückt, während die
Fingerspitzen der andern das Kleid emporhoben. Die lächelte; das feine
Gesichtchen strahlte ganz von Stolz und Anmut. Meine Mutter,
während wir hin und her schassierten, uns näherten und verneigten, sah
schon lange nicht mehr auf ihre Tasten; auch sie, wie ihr Sohn, schien
die Augen nicht abwenden zu können von der kleinen schwebenden
Gestalt, die in graziöser Gelassenheit die Touren des alten Tanzes vor
ihr ausführte.
Wir mochten auf diese Weise bis zum Trio gelangt sein, als die
Stubentür sich langsam öffnete und ein dickköpfiger Nachbarsjunge
hereintrat, der Sohn eines Schuhflickers, der mir an Werkeltagen bei
meinem Räuber- und Soldatenspiel die vortrefflichsten Dienste leistete.
"Was will der?" fragte Anne Lene, als meine Mutter einen Augenblick
innehielt.--"Ich wollte mit Marx spielen", sagte der Junge und sah
verlegen auf seine groben Nagelschuhe.

"Setze dich nur, Simon", erwiderte meine Mutter, "bis der Tanz aus ist;
dann könnt ihr alle miteinander in den Garten gehn." Dann nickte sie zu
uns hinüber und begann das Trio zu spielen. Ich avancierte; aber Anne
Lene kam mir nicht entgegen; sie ließ die Arme herabhängen und
musterte mit unverkennbarer Verdrossenheit den struppigen Kopf
meines Spielkameraden.
"Nun", fragte meine Mutter, "soll Simon nicht sehen, was ihr gelernt
habt?"
Allein die kleine Patrizierin schien durch die Gegenwart dieser
Werkeltagserscheinung in ihrer idealen Stimmung auf eine
empfindliche Weise gestört zu sein. Sie legte den Fächer auf den Tisch
und sagte: "Laß Marx nur mit dem Jungen spielen."
Ich fühle noch jetzt mit Beschämung, daß ich dem schönen Kinde zu
Gefallen, wenn auch nicht ohne ein deutliches Vorgefühl von Reue,
meinen plebejischen Günstling fallen ließ. "Geh nur, Simon", sagte ich
mit einiger Beklemmung. "Ich habe heute keine Lust zu spielen!" Und
der arme Junge rutschte von seinem Stuhl und schlich sich schweigend
wieder von dannen.
Meine Mutter sah mich mit einem durchdringenden Blick an; und
sowohl ich wie Anne Lene, als diese späterhin in ein näheres Verhältnis
zu unserm Hause trat, haben noch manche kleine Predigt von ihr hören
müssen, die aus dieser Geschichte ihren Text genommen hat. Damals
aber hatten die kleinen tanzenden Füße mein ganzes Knabenherz
verwirrt. Ich dachte nichts als Anne Lene; und als ich ihr am Montage
darauf ein vergessenes Arbeitskörbchen ins Haus brachte, hatte ich es
zuvor ganz mit Zuckerplätzchen angefüllt, deren Ankauf mir nur durch
Aufopferung meiner ganzen kleinen Barschaft möglich geworden war.
Etwa ein Jahr später kam ich eines Nachmittags auf der Heimkehr von
einer Ferienreise an Anne Lenes Wohnung vorüber. Da die Haustür
offenstand, so fiel es mir ein, hineinzugehen, um eine Kleinigkeit, die
ich unterwegs für sie eingehandelt hatte, schon jetzt in ihre Hand zu
legen. Ich trat in den Flur und blickte durch die Glasscheiben der
Stubentür; aber ich gewahrte niemanden. Es war eine seltsame

Einsamkeit im Zimmer; der weiße Sand lag so unberührt auf der Diele,
und drüben der Spiegel war mit weißen Damasttüchern zugesteckt.
Während ich dies betrachtete und eine unbewußte Scheu mich hinderte,
hineinzutreten, hörte ich in der Tiefe des Hauses eine Tür gehen, und
bald darauf sah ich meinen Vater mit einem schwarz gekleideten Kinde
an der Hand auf
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