Auf Gottes Wegen | Page 9

Bjørnstjerne M. Bjørnson
müde; heut abend konnte er nicht mehr denken. Aber
morgen -- ja, morgen wollte er Anders bitten, zu schweigen.
Doch am nächsten Morgen verschlief er die Zeit; er konnte nur gerade
noch in die Kleider springen -- und davonrasen -- mit einer
Buttersemmel im Mund und einem flüchtigen Gedanken an "=Les trois
mousquetaires=", die jetzt ihm gehörten; heut nachmittag würde er sie
lesen. In der Schule schlug er sich mit Hängen und Würgen von einer
Stunde zur andern durch; er konnte keine seiner Aufgaben, und

Sonnabends war gerade immer so viel. Bis auf die beiden letzten
Stunden vor Schulschluß war er vollauf in Anspruch genommen; dann
kam Französisch und Naturgeschichte; von den beiden Fächern war er
dispensiert. Und nun ging's die Treppe hinunter, vor allen andern.
Wie er vor der Tür des Schulhauses stand, kam eben Anders von der
andern Seite her. Der hatte jetzt eine Stunde in der obersten Klasse.
Augenblicklich fiel Edvard der gestrige Abend ein, und es packte ihn
ein Schrecken, was Anders jetzt wohl erzählen würde. Fast in derselben
Sekunde aber erblickte er zwischen zwei Landungsbrücken ein
Ungetüm von einem Dampfer, einen Havaristen, der sich langsam dem
Hafen näherte. Solch ein Riesenschiff war noch nie im Hafen gewesen,
sagten die Leute, die vorüberliefen. Mastlos, mit zerbrochener
Schanzverkleidung, mit gestützten Schornsteinen, bis oben voll
gespritzt von weißem Gischt, nur eben noch fähig, sich fortzubewegen
-- so kam es angezogen. Vielleicht im Schlepptau eines andern
Dampfers --Edvard konnte der Brücken wegen nichts sehen. Alles
rannte hinunter; und er mit.
Unterdessen schritt Anders durch das Schultor. Eben als er öffnete,
leerten sich die Klassen; ihr ganzer Inhalt stürzte die Treppe hinunter in
den Hof -- wie durch einen langen Trichter. Ein Orkan in einem
Riesenbauch --. Das Haus erdröhnte. Zuerst ein vereinzelter scharfer
Schrei -- die jubelnde Ichverkündigung des Ersten -- dann ein Gemisch
von Diskant- und Altstimmen -- dann gebrochene Übergangsstimmen,
die in einer etwas dunkleren Klangfarbe darüber hinwischten -- dann
ein gemeinsames Emporsprühen wie von einem gen Himmel
flammenden Feuermeer, bald ein halbes Erlöschen hier -- bald eine
freudig aufschießende Feuersäule dort; dann wieder ein einheitlicher,
breiter Glanz über dem ganzen Hofe.
Ruhig kam Anders dahergegangen. Nicht wie in einem Feuermeer,
mehr wie durch gefahrvolle Brandungen getragen, gewiegt -- hin und
her gespült -- von einem Ufer zum andern. Aber sein Ziel hatte er vor
Augen. Er wollte sich vorsichtig durchschlagen bis zu dem
Bretterhaufen am Zaun des Nachbars; dort war es still; und dort konnte
er, gegen das Holz gelehnt, sich's ein bißchen bequem machen.

Nachdem er sich diese Rückenstütze gesichert und mit seinen
Glotzaugen vorsichtig ausgespäht hatte, ob die Luft auch rein sei, glitt
sein Blick zufrieden über die Menge hin; er genoß das reizvolle Gefühl
der Gewißheit, diesen ganzen Aufruhr durch bloße drei, vier Worte --
seinem Nachbar ins Ohr geflüstert -- dämpfen zu können. Wie Öl auf
eine tobende See würden sie wirken, und der Lärm würde verstummen,
sobald die paar Worte über ihn hinflossen. Wo war Ole? Da --ein
großer Junge hielt ihn gerade gepackt; sie hatten sich gegenseitig am
Rockkragen und wirbelten im Kreis herum; der Große versuchte den
Kleinen zu Fall zu bringen und half mit dem Fuß nach. Oles schwere
Stiefel zappelten in der Luft; die eisenbeschlagenen Absätze blinkten;
er lachte aus vollem Halse; denn der andere wurde immer wütender und
aufgeregter, ohne ihn doch werfen zu können.
Da beugte Anders sich zu dem ihm Zunächststehenden herab: "Jetzt
weiß ich, was Ole Tuft jeden Abend treibt." -- "Ach, Quatsch!" --
"Doch, ich weiß es." -- "Wer hat's denn 'rausgekriegt?" -- "Edvard
Kallem." -- "Edvard Kallem? Hat der das Buch bekommen?" --
"Freilich." -- "Nee -- so was! Edvard Kallem!"
"Edvard Kallem? Was ist mit Edvard Kallem?" fragte jetzt ein Dritter.
Und der Zweite, der es eben gehört hatte, berichtete sofort. Ein Vierter,
ein Fünfter, ein Sechster schoß fort: "Edvard Kallem hat die Prämie
gewonnen! Anders Hegge weiß jetzt, was Ole Tuft jeden Abend treibt!"
Und überall, wo die Worte erklangen, verstummte der Lärm; alles
wollte hören, alles stürzte auf Anders Hegge zu.
Kaum war ein Viertel der Jungens zusammengelaufen, so wurden auch
die andern drei Viertel aufmerksam. Was in aller Welt mochte dort an
dem Bretterhaufen los sein? Warum liefen denn alle dorthin? Sie
scharten sich um Anders, sie kletterten auf den Holzstoß, so viel ihrer
überhaupt Platz hatten. "Was ist los?" -- "Edvard Kallem hat die Prämie
gewonnen!" -- "Edvard Kallem?" Wieder loderte es auf. Alle fragten --
alle antworteten --alle, außer Ole Tuft; der blieb stehen, wo der
Kamerad ihn losgelassen hatte.
Dann wurde es mäuschenstill. Anders Hegge erzählte. Das war sein
gutes Recht; er hatte dafür bezahlt. Er erzählte gut, in einer klaren,

trockenen Art, die allem einen Schimmer von Doppelsinnigkeit verlieh.
Erst erzählte er, wo Ole sei und was er da treibe -- daß er die
Werft-Marte umbette,
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