An heiligen Wassern | Page 8

Jakob Christoph Heer
St. Peter getroffen? Nie! Und doch
wohnen wir unter den Firnfeldern der Krone und sie hätten freien
Weg.«
»Ich weiß schon, wohin Ihr zielt, aber ich bin nicht abergläubisch; die
armen Seelen kommen in die Hölle, nicht auf die Gletscher. Das sagt ja
der Pfarrer selbst,« höhnte der Wirt, »der wird's wissen!«
In diesem Augenblick schaute ein etwa fünfzehnjähriger Junge blöd
durch die halbgeöffnete Thüre.
»Nur hinein, Eusebi!« Lustig schob Binia den ungelenken
schwächlichen Burschen mit beiden Händen vom Flur in die Stube.
»Was willst, Eusebi?« fragte der Garde freundlich.

»S--s--sollst h--h--heim--k--k--ommen, V--v--vater. Ei-- ein R--rind ist
k--k--kr--rank auf d--d--er Alp.«
Der Stotterer schämte sich seines Uebels, er wußte nicht wohin blicken.
»Sei nur ruhig, Eusebi, ich komme!« Der Garde stand auf und der Presi
gab ihm bis auf die Freitreppe das Geleit.
Dort säumten die Männer noch einen Augenblick.
»Also wir müssen auf alles gefaßt sein, die Wildleutlaue kann jede
Stunde gehen,« sagte der Presi ernst.{1}
»Ja, aber noch einmal gesagt, die Machenschaft mit Seppi Blatter ist
nichts,« erwiderte der Garde. »Im übrigen hoffe ich, daß ich bei der
Wassertröstung[5] das Amt niederlegen kann. Ich bin der Geschichte
satt.«
[5] Wassertröstungen nennt man die Gemeindeversammlungen, in
denen Beschlüsse über die Wasserleitungen gefaßt werden.
»Das nicht, das nicht; über Seppi Blatter aber reden wir im
Gemeinderat.«
Die Männer schüttelten sich die Hände.
»Nichts für ungut!« sagte der Garde, »ich rede frei von der Leber,
anders hab' ich's nicht gelernt.«
Binia aber rief: »Nicht wahr, Eusebi darf noch bei mir bleiben.«
»Gewiß,« lächelte der Garde wohlgefällig, »ich habe nichts lieber, als
wenn er bei anderer Jugend ist.« Da riß die wilde Binia den scheuen
Jungen mit sich.
Der Garde, der ganz aus Eisen zusammengesetzt schien, ging
langsamen Schrittes durch die kleinen Aecker zur Hütte des Wildheuers
Seppi Blatter. Er hatte schwer zu denken und wiegte den mächtigen
Kopf: Was für ein merkwürdiger Mann ist doch der Presi! St. Peter ist

zu klein für seine rastlose Betriebsamkeit. In allem hat er die Hand. Er
hat seine Schuldscheine auf Aeckerchen und Alpen, er beherrscht als
Vermittler zwischen den Sennen und den fremden Händlern den Käse-
und Viehhandel, er ist Posthalter und hat damit den Einblick in allen
Verkehr und nun will er noch Fremdenwirt werden.
Dazu die schlechte voreilige Anbändelei mit Seppi Blatter! -- Was hat
er für einen Zweck dabei? Keinen! Eine Laune ist's, ein Stück
sträflichen Uebermutes.
Da war er bei der Hütte angekommen.
»He, fleißige Vroni, wo ist der Vater?«
Vroni saß auf dem moosüberwachsenen Block, der das Häuschen
schirmte, sie flocht mit flinken Fingern an einem jener Strohbänder,
woraus die Glotterthalerinnen die zierlichen Hüte machen, die sie
tragen. Nebenbei überwachte sie die drei Ziegen, die, mit den Schellen
klingelnd, zwischen hohen roten Enzianen und blauem Eisenhut sich
ihr Futter naschten.
»Vater, Mutter und Josi wildheuen an den Bockjeplanken; kann ich
dem Vater etwas ausrichten, Pate?«
»Er soll unter Licht[6] bei mir vorbeikommen. Guten Abend, artiges
Kind --«
[6] unter Licht, schweizerdeutsch, »in der Dämmerung«.
Damit stoffelte[7] er den Berg hinan. Vroni hatte aber von ihm einen
Blick aufgefangen, der ihr zu denken gab. In seiner Freundlichkeit war
ein sorglicher Ton gewesen, der ihr in den Ohren nachklang.
[7] stoffeln, schwerfällig gehen.
Wie gestern rollte auch heute in einem fort Lawinendonner in stärkeren
und schwächeren Schlägen vom Gebirg, und plötzlich fiel ihr der Vater
ein. Sie wußte nicht warum. Doch! Er war am Morgen so blaß gewesen,

er hatte gesagt, er habe die ganze Nacht kein Auge geschlossen wegen
des Donners.
Vroni bemerkte es in ihrem Sinnen nicht, daß eine behende Gestalt wie
ein Wiesel über die Felsen hinaufgeklettert kam, sie erschrak ordentlich,
als Binia ihren Arm um sie schlang. Und dann sah sie den scheuen
Eusebi unten stehen.
»Komm, Sebi, komm!« Er kletterte, setzte sich zutraulich zu den zwei
Mädchen, seine Augen glänzten in stiller Freude. »Vroni und Bini
wissen, daß ich nicht so einfältig bin, wie die Leute meinen,« dachte er.
»Vroni, wie geht die Geschichte von den heligen Wassern weiter, mir
hat die ganze Nacht von der Wildfrau Gabrisa geträumt, sie war aber
nicht schwarz, sondern blond wie du!« scherzte Binia.
Vroni lachte, dann mahnte sie: »Du, von Josi darfst du keinen Kuß
mehr bekommen!«
Eusebi riß die Augen auf: »K--k--kuß,« stammelte er verwundert.
»So!« Lustig stellte Binia die weißen Zähne. »Erzähle jetzt nur, Vroni.
Josis Kuß war ja nur Spiel.«
Da legte Vroni, wie sie es gewohnt war, die Hände über das Knie und
sah in die Weite: »Ich fange jetzt gleich an, wo ich gestern zu
überdenken aufgehört habe, ich mag das Gleiche nicht zweimal sagen.«
»O, das macht mir und Sebi nichts, wenn du nur erzählst,« versicherte
Binia.
Da begann Vroni:
»Man wunderte sich, wie die Wildleute Wasser in die Weinberge
hinaufführen oder tragen werden und viele Leute gingen nach Hospel
hinaus, um es selber zu sehen.
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