An heiligen Wassern | Page 5

Jakob Christoph Heer
auch schon gesehen?« fragte Josi.
»Nein,« antwortete Vroni kurz und beklommen.
»Eben darum kommt die Wildleutlaue. In den letzten Wintern ist mehr
Schnee auf den Gletscher gefallen, als die Sommer haben zu schmelzen
vermögen; der Gletscher ist gewachsen, er tritt über die Felsen hinaus,
man sieht ihn, wo man ihn vorher nicht hat sehen können. Jetzt, wo es
heiß wird, schmilzt der Schnee, das Wasser fließt in das hervorstehende
Eis; die Last wird zu groß, der Gletscherbruch kommt, die
Wildleutlaue!«
»Ums Himmels willen, Josi, laß uns gehen!«
»O, dem Weg schadet es nichts; wenn die Luft beim Sturz nicht so
sausen würde, so könnten wir da ruhig zusehen, Eis und Schnee stürzen
in die Schlucht, die ist ja groß. Aber es ist wegen der heligen Wasser!«
Vroni war unbekümmert um den Bruder, der ihr alles mit großen
Worten vortrug, aufgestanden, er folgte, in einer halben Stunde hatten
sie den Stutz, die Schlucht und die Weißen Bretter hinter sich, vor
ihnen lag auf dem sanften Oval des ebenen Thalhintergrundes ihr
Heimatdorf, St. Peter, das rings von hohen Bergen umsäumt ist.
Einen Augenblick schauten die Geschwister, die das letzte Wegstück
schweigend zurückgelegt hatten, über die weißen Windungen des
Sträßchens am Stutz hinab und nach dem Teufelsgarten zurück. »Lug'
dort, Bini!« rief Josi. Das wilde Kind hatte sich hinter der Kapelle auf
das Maultier geschwungen und sprengte nun, eben noch unterscheidbar,
wie ein fliegender Schatten über die schmalen Matten des Thales gegen
Tremis hinab. Vroni sah es wohl, wie sich das treuherzige Gesicht Josis
verklärte, als er noch einen Schein der Gestalt erhaschen konnte.
Ueber ihr frohmütiges Antlitz flog ein Schatten.
»Du, Josi, was der Kaplan Johannes gethan hat, das ist schrecklich. Er
hat dir und Binia den bösen Segen gegeben. Jetzt, wenn ihr auch
wolltet, könnten du und Binia nie ein Paar werden.«

Josi lachte trocken.
»Er ist kein Gottesmann,« fuhr Vroni fort, »er ist ein Teufelsmann. Die
Mutter sagt's. Er ist nur ein davongelaufener Klosterschüler, er darf
niemand die Beichte abnehmen; die Leute nennen ihn nur Kaplan, weil
früher, zu Bergwerkszeiten, die Kapelle der Lieben Frau eine Kaplanei
gewesen ist.«
Josi hatte das Bedürfnis zu widersprechen.
»Aber hat er auf den Alpen mit seinen Tränken und Sprüchen nicht
schon manchmal krankes Vieh gesund gemacht? Denk' nur an die
zwölf Stücke des Bäliälplers. Sie hatten die Klauenseuche und man
wollte sie schon töten, da segnete sie Johannes und sie wurden in drei
Tagen gesund.«
»Ja -- und dafür starben dem Bäliälpler drei Wochen nachher die
beiden schönen Kinder, die bis dahin kerngesund gewesen waren; er
und seine Frau, die früher glücklich zusammen lebten, haben jetzt
nichts als Zank und Streit, er ist wild über sie, weil sie den letzköpfigen
Pfaffen ohne sein Wissen in den Stall geführt hat, und immer sitzt er
zornig und traurig im Wirtshaus.«
»Die Kinder sind vielleicht auch sonst gestorben,« versetzte Josi kühl.
»Wir lassen den Kaplan nie in unseren Stall, haben wir deswegen
weniger Unglück mit dem Vieh als andere Leute? Nein, im ganzen
Dorfe haben wir am meisten. Drei Jahre hintereinander haben wir
Jungvieh aufgezogen, es wuchs und gedieh auf das schönste, aber
jedesmal, wenn's bald hätte verkauft werden können, ist's umgestanden.
Die Loba, die der Vater am Samstag verkauft hat, ist seit vier Jahren
das erste Stück, das geraten ist.«
»Die Loba!« -- Vroni bückte sich tiefer unter ihrer Last; die Thränen,
die sie vergossen hatte, als der Händler das schöne liebe Rind
davongeführt hatte, drohten wieder zu kommen. Sie wurde traurig und
still.
»Du erzählst der Mutter nichts von Kaplan Johannes, gelt, Vroni,«

versetzte Josi schmeichelnd, als sie durch die mit großen
Pflastersteinen besetzte Straße von St. Peter schritten. »Nein, gelt, du
sagst nichts!«
»Ei, wie Josi betteln kann.« Das Gesicht Vronis hatte sich gehellt.
»Wenn du dich nie mehr mit dem Kaplan einlässest, will ich still sein.«
Sie schritten durch die lose Reihe gebräunter Holzhäuser, Ställe und
Städel[2], die das Dorf bilden. Als sie am Gasthaus zum Bären
vorbeikamen, einem alten, massiven Steinbau gegenüber der Kirche,
die sich auf einem Felsenhügelchen erhebt, öffnete sich ein Fenster und
eine Männerstimme rief: »Vroni! -- Josi!«
[2] Stadel, schweizerdeutscher Ausdruck für Heuschuppen.
»Der Vater!«
Freundlich reichte ihnen der bärtige Wildheuer ein Glas voll Wein: »Ihr
werdet wohl Durst haben!«
Vroni nippte nur, Josi aber nahm einen tapferen Schluck.
»Sagt der Mutter, es könne, bis ich heimkomme, etwas später werden,
als ich gemeint habe, der Presi ist nach Hospel gegangen und ich muß
ihn erwarten.«
So der Vater. Die Kinder verabschiedeten sich, schlugen einen
Seitenweg ein, der durch Kartoffel- und Roggenäckerchen an den
sonnigen Hang hinüberführt, wo die Maiensässen[3] und Alpweiden
der Leute von St. Peter liegen.
[3] Maiensässen sind Berghäuser zwischen den Dörfern und den
Alpweiden, sie bilden beim sommerlichen Zug der Sennen und des
Viehs auf die Hochweiden den Zwischenaufenthalt, wo gewöhnlich im
Mai mehrere Wochen geruht
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