An heiligen Wassern | Page 4

Jakob Christoph Heer
Bildhaus
von Tremis von den Abgesandten der Wildleute und der Dörfer
beschworen.
Nur wunderte man sich, wie die Wildleute das Wasser in die hohen
Weinberge tragen oder führen werden, doch wußte man, daß sie in
vielen Künsten erfahren waren.«
Erst jetzt merkte Vroni, daß sie auch vom Bruder im Stiche gelassen
worden war. Was verschlug's? Er hatte ja die Geschichte schon oft von
der Mutter gehört, die sie so schön wie niemand anders zu erzählen
verstand. Als sie nun die treulosen Zuhörer suchen ging, bot sich ihr ein
überraschender Anblick.
Zur Seite der Ruine, wo die Mauleselin Galta stand, lag Binia auf dem
Haufen Grünfutter, den sie oder Josi dem Tier vorgeworfen hatte. Das
wilde Kind lachte mit seinen schwarzen Augen und seinen weißen
Zähnen den Burschen an und er hielt vor ihr stehend einen Strohhalm
voll roter glänzender Erdbeeren, die ersten des Jahres.
»Mund auf und Augen zu!« sagte er zu der Daliegenden, die lustig zu
ihm emporschielte.
»Aber nichts Wüstes hineinthun!« bat sie.
»Was denkst auch, Bineli,« lachte Josi.
Da schloß Binia die Augen zu, öffnete den Mund und Josi zog die roten
Erdbeeren lächelnd vom Halm und steckte dem Kinde eine um die
andere zwischen die roten Lippen. Plötzlich aber besann er sich anders,

statt einer Beere drückte er ihr einen Kuß auf den frischen Mund.
Binia wollte zappeln, Vroni wollte rufen, das sei das Spiel zu weit
getrieben, aber beide lähmte die Ueberraschung.
%»Deus benedicat vos!«% klang tief und feierlich eine Männerstimme
aus dem Innern der Ruine, ein schwarzbärtiges hageres Gesicht schaute
durch ein kleines Gitterfenster der Mauer auf die Kinder.
»Der letzköpfige Pfaff!« schrieen sie wie aus einem Munde, ein großer
Schrecken war ihnen in die Glieder gefahren. Binia schirrte das
Maultier los, Josi und Vroni eilten nach der Kapelle zu ihren Kraxen,
stülpten die an einem Baum hängenden Hüte auf den Kopf und alle drei
wollten ihrer Wege gehen.
Als sie sich aber auf der Brücke eben wieder begegneten und hastig
aneinander vorübereilen wollten, trat der Mann von vorhin schlarpend
aus der Ruine und mitten unter sie. Er war barhaupt, an den Füßen trug
er Holzsohlen, um die dunkle rauhe Kutte schlang sich ein weißer
Strick, von dem ein Rosenkranz niederhing. Ganz verwildert sah der
bärtige Einsiedler aus, in dessen bleichem Gesicht zwei unstete Augen
loderten.
%»Pax vobiscum!«% grüßte er sie. »Du bist Binia, die Tochter des
Presi! Du bist Josua, der Sohn des Wildheuers! Kniet nieder ihr zwei!«
Er machte dazu mit seinen mageren Händen eine so feierliche
Bewegung, daß die bekränzte Binia unwillkürlich gehorchte und auf
die Brücke niederkniete.
Verwirrt folgte der Bursche.
Da legte er ihnen die Hände auf die glühenden Häupter und sagte tief
und getragen: »So wahr ich Kaplan Johannes heiße, liebet euch
untereinander, Josi und Binia.«
Er murmelte über ihnen einen langen lateinischen Spruch wie ein
Gebet.

Vroni, welche die stille Zuschauerin war, kam das, was Kaplan
Johannes that, unheimlich und schrecklich vor. Ihre Augen irrten
hilfesuchend thalauf, thalab, doch wagte die Zitternde keinen Einspruch,
dafür kam ihr das Gewand des Mannes zu heilig vor. Zuletzt sagte sie
gepreßt: »Wir müssen ja gehen!«
»So geht!« grollte die Baßstimme des Kaplans, er schleuderte Vroni
einen zornigen Blick zu, machte das Zeichen des Segens über den
zweien und lief über die Brücke. Bald bimmelte das Glöckchen der
Kapelle Vesper durchs Thal, aber die Kinder knieten bei den Klängen
nicht, wie sie's gewohnt waren, nieder. Ohne sich zu grüßen, liefen sie
hastig und mit roten Köpfen auseinander, Binia mit dem Tier über die
Brücke thalaus, Josi und Vroni, mit ihren Holzschuhen klappernd, die
Kraxe auf dem Rücken, den Stutz empor, der mit seinem Zickzack
gleich hinter dem Schmelzwerk beginnt und nach St. Peter führt.
Da ragen, vom Weg nur durch die schreckliche, trichterartige Schlucht
der Glotter getrennt, die Weißen Bretter, drei senkrechte und glatte
Felswände, die aus der Tiefe der Schlucht wie weiße unbeschriebene
Tafeln bis zum Gletscher und ewigen Schnee des Glottergrates
ansteigen. Zwischen den drei Wänden ziehen sich zwei tiefe wilde
Graben, in denen sich ausgewitterte Felsen, Klippen und Türme
erheben, ebenfalls bis in die Höhe ewigen Winters, sie heißen die
Wildleutfurren. In halber Höhe aber geht wie eine dunkle Linie die
Leitung der heligen Wasser quer über die Felsen. Ein Rad, das oben
klopft, sagt den Leuten im Thal, daß die Wasser ruhig die furchtbare
Strecke fließen.
Schweigend waren die Geschwister eine Weile gegangen, da lehnte
Josi die Kraxe an die Halde, die den Weg säumt, und schaute gespannt
zu der Leitung empor.
Nein, höher noch hinauf, zu dem blauschillernden Gletscher, der mit
einer Last reinen weißen Firnenschnees über die Wände hinausragte.
An seinem Rand stoben immer kleine weiße Rauchwolken auf, ein
Rieseln und Schäumen, wie das von Wasserfällen ging durch die
Wildleutfurren abwärts, verlor sich in ihren Klüften und knatternder
Widerhall der kleinen Lawinen füllte das Thal.

»Hast du das
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