An Deutschlands Jugend | Page 8

Walther Rathenau
der Philosophie der Völker und
der vergleichenden Naturbetrachtung eines Weltsystems leben:
Könnten wir uns in engen Landstädten, in gerätelosen Kammern, in
gleichförmigen Marktversammlungen, mit einer auserwählten aber
vergleichlosen Lebensform und Kunst begnügen? Die Polyphonie
unseres Lebens, die an sich kein Glück, wohl aber eine Stufe ist, duldet

keine Rückkehr zur einstimmigen Melodie.
Dies sind nur Bilder und Vergleiche. Des Beweises bedürfen wir nicht;
denn in uns eingepflanzt ist der Drang nach oben, in Sehnsucht, Wollen
und Handeln. Ein Denken, das diesen Drang zu vernichten strebt,
macht uns zu Verzagten des Gewissens, zu Stümpern des Tuns. Ein
Denken, über das man sich, bewußt oder unbewußt, stets hinweggesetzt
hat und hinwegsetzen wird, um recht zu leben, lohnt nicht gedacht zu
werden. Eine niedere Instanz, der intellektuelle Geist versucht, uns ihr
Urteil aufzudrängen, und wir antworten ihr: du bist unzuständig,
überdies ist dein Urteil falsch und unvollstreckbar.
Ein anderer Zweifel kommt von der deutschen Wissenschaft. Ein
Engländer hat es gelehrt, wir haben die Lehre aufgenommen und mit
unserer Gründlichkeit hundert Jahre lang zu Tode gehetzt: Alles
Geschehen sprießt aus den Wurzeln der Zeiten, des Bodens, der
Stämme, der Überlieferung. Durchdringt man mit rastloser Liebe und
emsiger Forschung die Gegebenheiten der Geschichte und der
Erdfläche, die Gepflogenheiten der Sitten und Einrichtungen, so
verwandelt sich alle Willkür des Geschehens in sanften Fluß des
Wachstums, alles Überraschende ordnet sich ein, alles unheimatlich
Fremde wird abgeschieden. Diese Betrachtungsweise hat für den
Gelehrten den Vorteil, daß sie alles Denken durch gefühlvolles Wissen
ersetzt. Unerschöpfliche Anknüpfungen lassen sich finden, alles
Bestehende rechtfertigt sich durch immer neu vertiefte Forschung, alle
Taten großer Männer, ja alle Naturereignisse und Wirrnisse erscheinen
als Erfüllungen einer Urverheißung, die in der jeweiligen Gegenwart
gipfelt. Denn leider reicht die Kette immer nur bis zur jeweiligen
Gegenwart; Wissenschaft ist nun einmal nicht prospektiv, sie kann
niemand sagen, wie er es machen soll, und was, und ihre
Prophezeiungen sind meistens falsch. Neue Kräfte, welche die
geradlinige Verlängerung des Systems bedrohen, erscheinen als
Störungen, als feindliche Mächte -- freilich werden sie, wenn sie Erfolg
haben, nachträglich in die Ordnung eingegliedert und mit den
erforderlichen Vergangenheitswurzeln bedacht --; im Vorblick wirkt
die historische Methode konservativ und ist daher im offiziellen
Deutschland willkommen, ja unentbehrlich.

Für die Geschichtschreibung wird sie es bleiben, und auf diese sollte
sie sich beschränken. Die Gestaltung der Zukunft wurde uns durch die
gemütvolle Verführung der wissenschaftlichen Romantik lange genug
gehemmt; eine Zeitlang muß wieder einmal, wie bei jeder großen
Wende, die Idee herrschen. Romantisch betrachtet erscheint freilich die
Idee fremd, abstrakt, rational, der lokalen Färbung und des gewohnten
heraldischen Zierats ermangelnd. So fremd erschien vielleicht dem
ländlichen Steinmetzen der Aufriß einer Kathedrale. Ist die Idee
verwirklicht, der Turm gebaut, so erkennt man ihre Bodenständigkeit,
die eben durch die Verwirklichung gewonnen wurde.
Nur aus der Vermählung des abstrakt Idealen mit dem greifbar
Bestehenden stammt Entwicklung; der Baum, der nicht in den Himmel
wachsen will und nur seinen Standort bedenkt, wächst nicht und wird
von anderen überschattet; daß er nicht in den Himmel wachse, dafür ist
gesorgt, seine eigenen Wurzeln werden ihn zurückhalten. Alexander
hätte nicht den Osten hellenisiert, Karl nicht die Sachsen bekehrt,
Napoleon nicht die neue Zeit emporgeführt, wenn sie sich von
Professoren über Bodenständigkeit hätten beraten lassen; nachträglich
hätten sie vielleicht einige aufklärende Zustimmung erlangt. Der
Vorblick ist vom Rückblick verschieden; leicht weist man auf, wie die
Frucht am Stengel, der Stengel am Zweig, der Zweig am Ast, der Ast
am Baum sitzt. Ein anderes ist es zu sagen, welche Knospe sich zum
fruchttragenden Ast entwickeln und welche verdorren wird. Die
Wissenschaft unterschätzt die Fliehkraft des schöpferischen Willens,
der um so erdenmächtiger wird, je weniger er sich um die irdische
Bindung kümmert.
Ein ganz tatsächliches Moment sollten die Verehrer des ruhigen
Flusses und der Überlieferungskräfte nicht vergessen: Die Völker, mit
denen die nationale Erinnerung sich in feierlichen Augenblicken
identifiziert, leben nicht mehr. Die Italiener sind keine Römer, die
Franzosen keine Franken und die Deutschen keine Germanen. Die
Verschmelzung mit Unterworfenen und mit den eigenen unbekannten
Unterschichten hat die Völker nicht nur von Grund auf gewandelt,
sondern auch weit mehr, als man zuzugeben geneigt ist, untereinander
angeähnlicht. Die geistigen und körperlichen Verschiedenheiten der

Proletariate Europas, die heute schon die überwiegenden Massen der
Völker ausmachen und daher auch die eigentlich Kriegführenden sind,
erweisen sich als sehr gering. Der Umschichtungsbewegung, die in
Deutschland die letzten fünf Jahrhunderte erfüllt, entstammt die ganze
sichtbare Änderung unseres Völkerlebens; die Einrichtungen sind den
Änderungen der Substanz nicht vorausgeeilt, sondern zeitweise um
große Strecken zurückgeblieben; man erinnere sich der kleinen
Einzelzüge: daß vor dem Kriege das Wort Volk in der offiziellen
Sprache verpönt war und nicht an den Reichstagsgiebel geschrieben
werden durfte, und daß jede Verteidigung des Begriffes der Demokratie
an Staatsverbrechen rührte. Zweierlei sollten die kryptokonservativen
Denker im Auge behalten: einmal, daß die Wasser der Weltgeschichte
unaufhaltsam zum Tale laufen, das Freiheit heißt, und sich
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