An Deutschlands Jugend | Page 5

Walther Rathenau
oder
mit den »besseren« Ständen. Alle Gebiete des Lebens überschattete die
Autorität des unbestrittenen sichtbaren Erfolges, sogar die Kunst fand
es selbstverständlich, Urteil und Rat vom bereicherten und kaufenden
Bürger und der gebildeten Hausfrau zu empfangen. Die Jugend, soweit
sie nicht als verderbt galt, fügte sich den genehmigten Idealen, ja
überbot sie; der oberste der genehmigten Begriffe war die Karriere. Der
wachsende Staat verlangte Beamte, das heißt Juristen, die Laufbahn
verlangte gesellschaftliche Garantien, das heißt studentische und
offiziermäßige Korporation. Die Vorbilder wirtschaftlichen Aufstiegs
waren noch vereinzelt und nicht so machtgesteigert, um zu verlocken,
der Wissenschaftsbetrieb hatte eine gesonderte Aufstiegsordnung, in
der ein umfangreiches Assistentenwesen und Einheirat eine gewisse
Rolle spielten.
Jugendlicher Drang, von freier Tat ferngehalten, halb freiwillig, halb
unbewußt in das ungeistige, unfromme, phantasielose Joch der
Autorität und Streberei gezwängt, schuf ein Zerrbild, so unerfreulich
wie kaum eines seit der Zeit des lanzknechtlichen Hosenteufels, des
altmodischen Bramarbas und des bezopften Renommisten: den
Patentscheißer. Aufgeschwemmte Burschen, schnöde und zynisch im
Auftreten, mit geklebtem Scheitel, gestriemten Gesichtern,
Reiterstegen an den gestrafften Beinkleidern, schnarrender Stimme, die
den Kommandoton des Offiziers nachahmte. Den Hochschulbetrieb
verachteten sie, die kümmerliche Prüfungsreife erlangten sie durch

sogenannte Pressen, ein feindseliges und herausforderndes Wesen
trugen sie zur Schau, außer wenn es sich um Konnexionen handelte,
ihre Zeit verbrachten sie mit Pauken, Saufen und Erzählen von
Schweinereien. Solche Gestalten wurden geduldet, ja anerkannt; sie
waren bestimmt, zu denen zu gehören, die das Volk regieren, richten,
lehren, heilen und erbauen. Gewiß, es gab auch zahlreiche andere
Vertreter der akademischen Jugend, vor allem die, deren Mittel zur
Erreichung dieser Stufe nicht langten; doch meine Befürchtung, daß die
Generation der achtziger Jahre uns den Ausfall einer geistigen Ernte im
öffentlichen Leben kosten würde, hat sich erfüllt.
In den Formen des ländlichen und kleinbürgerlichen Lebens haben wir
uns stets bescheiden, sicher und würdig bewegt. Für gesteigerte
bürgerliche Lebensform ist ein gültiges neuzeitliches Vorbild in
Deutschland nicht geschaffen worden. Der kleinere Adel blieb
gutsherrlich, patriarchalisch, stadtfeindlich, der größere international
und abgesondert. Der Soldatenstand ließ nach außen nur einen kühlen
Schliff erkennen, der zu brutal übertreibender Nachahmung verführte,
das Beamtentum, wirtschaftlich gedrückt und stolz verzichtend, machte
in seinen Formen die Abwehr fühlbar, die ein Leben in unterordnenden
und spaltenden hierarchischen Gepflogenheiten bedingt. Patriziat und
alter Reichtum, in Deutschland selten und versprengt, fand in sich kein
Gleichgewicht und drängte zum Adel und Hof.
So fand sich bei uns niemals ein anerkanntes Vorbild der Lebensform,
des Benehmens und der Gesellschaft; unzusammenhängende
Konventionen wurden unverstanden gelehrt und als
Unterscheidungszeichen gewertet, zur Schaffung eines geschlossenen
äußeren Erscheinungsbildes reichten sie nicht aus. Der erzieherische
Nachteil dieses scheinbar äußerlichen Mangels für jedes
heranwachsende Geschlecht wird unterschätzt. Er läßt den jungen
Menschen die Würde und Sicherheit einer anerkannten Schulung
entbehren, verführt zu einem billigen Individualismus, der nur
Formlosigkeit ist, erschwert die Schätzung und Gemeinschaft einer
körperlichen Kalokagathie, bewirkt Rückschläge in eine pomadisierte
Pöbelhaftigkeit und ermöglicht die Entstehung von wechselnden
Zerrbildern, die nirgends in der Welt geduldet werden würden, und von

denen das der achtziger Jahre ein teuer bezahltes Beispiel bildet.
Diese Sorge ist vorüber, denn kommende Zeiten werden die Spaltung
der Kasten nicht kennen, der aristokratischen, militärischen und
bureaukratischen Vorbilder nicht bedürfen, sondern ihre Wertungen aus
menschlichen und volkstümlichen Vorstellungen schöpfen. Für uns
bestand sie, euch blieb sie erspart.
Denn ihr hattet das Glück, im Widerspruch zu erwachen. Eure Kindheit
hat der beginnende Wohlstand des Landes gepflegt, ein erwachendes
Schrifttum, eine nicht volkstümliche Kunst hat euch ein Widerspiel zur
Gegenwart und Wirklichkeit geschaffen, euer Bewußtsein erweckt und
durch Kontrast befruchtet. Die schmerzhafte Lösung von der Autorität,
die einigen von uns glückte, andere brach, war für euch kein Problem,
denn ihr seid frei geboren. Eure Väter konnten euch nicht die
Unwiderleglichkeit großer Schöpfung entgegenhalten, sie hatten nur
die Mechanisierung emporgehoben, der sie fruchtlos dienten, den Staat
und ihr eigenes Machterbe verwahrlost, und euch mit einer
gewalttätigen, rauschenden und schimmernden Zivilisation umgeben,
die sich anpreisen aber nicht verteidigen konnte. Freilich waren auch
unter ihnen große Männer, deren Arbeit Gutes schuf und ohne ihr
Wissen Künftiges bereitete, doch die Welt war entseelt, der Glauben
erstorben bis auf seine Wurzeln des schöpferischen Zweifels, und die
äußerlich glänzendste Epoche, die je der Erde beschieden war, die dicht
an das künstliche Paradies der Schmerz- und Sorglosigkeit, der
technischen Schrankenlosigkeit und des ewigen Wohlstandes rührte,
erstarb im Geiste.
Ihr durftet zum Bewußtsein erwachen, und wenn uns Älteren ein Anteil
an der Freude dieses Erwachens zufiel, so war es der, daß einige von
uns versucht hatten, der prachtvoll untergehenden Zeit ins Auge zu
blicken, ihr das Gesetz ihrer Sterblichkeit zu entreißen und mit der
Gewißheit der aufsteigenden Seele heimzukehren. Selbst eure Väter
hatten euch vorgearbeitet; sie waren der alten Strenge und
Herrschgewalt nicht fähig, denn die fordert zweifelfreie Überzeugung
und Überlieferung, sie aber hatten nichts zu bieten als schwankende
Relativität, die verstehen wollte, aber nicht werten. Unschlüssig

lockerten sie das Band der Schule;
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