An Deutschlands Jugend | Page 4

Walther Rathenau
agitatorischen
Anschauung noch fähig? Was sind überhaupt die Voraussetzungen für
die Möglichkeit einer deutschen Anschauung? Und sind sie
verwirklichbar?
Die erste Prüfung endet freilich schlimm. In keinem Lande der Erde
wird soviel wie bei uns von Anschauung, Weltanschauung, Kultur und
Ideal geredet. Das kommt daher, daß wir in der vormechanistischen
Epoche eine wundervolle Blüte des Geistes erlebt haben. Das war in
einem kleinen, in den Tiefen kaum emanzipierten Volke mit einer
Schicht von knapp fünftausend Gebildeten, einem Volk also, das
eigentlich nur aus sichtbarem Geist bestand, oder in dem nur der
engverschwisterte, uninteressierte Geist das Wort hatte. In den letzten
drei Menschenaltern war die Zahl und Kraft der idealistischen Geister
so gering, daß es zweifelhaft erscheint, ob unsere wissenschaftliche,
technische und organisatorische Zivilisation noch den Namen einer

Kultur verdient.
Als wir in den Krieg zogen, fragten uns die Neutralen nach der
Weltanschauung und den Idealen, für die wir kämpften. Wir erklärten
ihnen, unsere Feinde seien Händler, wir aber verträten eine heldenhafte
Weltanschauung, wobei denn freilich der ganze bei uns herrschende
Kapitalismus abgeschaltet werden mußte, der
technisch-organisatorische Teil der Kriegführung im Dunkel blieb, und
die Gegenfrage abgelehnt wurde, wieweit wir Kellner, Barbiere und
Handlungsreisende, die in unserem Namen die Welt versorgten, in das
Heldenideal einzubeziehen wünschten.
Dann haben uns Gelehrte ein Ideal der deutschen Freiheit beschieden,
das weniger eine Freiheit als eine sympathische Unfreiheit war, das
auffällig mit den herrschenden Zuständen übereinstimmte und im Kern
auf einen Lobpreis der Professorenlaufbahn hinauslief.
Auch das altliberale Bürgerideal hat man uns anzupreisen versucht, mit
schüchterner Loslösung von seinem englisch-französischen Ursprung,
das gern auf demokratische Ausgelassenheit verzichtet, sofern es einem
jeden freisteht, ungestört und unbekümmert vom Nächsten und vom
Staat, seinem förderlichen Beruf nachzugehen.
Die sogenannten Machtideale bedürfen keiner Erwähnung. Sie passen
auf jeden, der die Mittel zu haben glaubt oder sucht, um sich auf
Kosten anderer Vorteile zu schaffen.
Nun ist es von Weltanschauungen stiller geworden, und wir
beschäftigen uns wieder vorwiegend mit Interessen und Tagesfragen.
Wo sind die deutschen Ideale, wo sind ihre Träger?
Wir haben sieben Millionen Arbeiter, die zum großen Teil von
Schulagitatoren geführt werden. Wir haben acht Millionen
unselbständige in der Landwirtschaft Beschäftigte, die sich nicht
organisieren dürfen und nicht Träger eigener Gedanken sind. Wir
haben zwei bureaukratisch geordnete Kirchen, die dem Austretenden
mit Minderung bürgerlicher Rechte drohen dürfen. Wir haben die
Stände der Interessierten, die mit der Dialektisierung ihrer Gewerbe

befaßt sind. Wir haben eine Beamtenkaste auf Grund eines
Gesinnungsnachweises. Wir haben einen selbständigen Mittelstand, der
nach den Gründen seines Niederganges sucht. Wir haben ein
Großbürgertum, das nach Beziehungen und Beförderungen lechzt. Wir
haben einen staatsbeamteten Gelehrtenstand, der zur Verteidigung alles
Bestehenden erzogen ist. Wir haben Interessenvertreter und Ortsgrößen,
die im politischen Leben stehen und ihre Wünsche und Kritiken mit
denen ihrer Auftraggeber in Übereinstimmung zu bringen suchen.
Und dennoch! Solange noch Selbstbewußtsein und Willenskraft in uns
ist, lieber in tätigem Glauben und edlem Irrtum vergehen als in kranker
Resignation und galliger Verneinung leben. Abermals rufe ich zu dir,
deutsche Jugend! Noch haben dich die Kleinheiten des Lebens nicht
zermürbt, die wütenden Interessen und giftigen Händel dich nicht
verfeindet, ein großes Schicksal hat dich verschmolzen und geläutert,
hilf die Quellen des schmachtenden Landes erschließen.
Laßt uns diesen einen Gang gemeinsam gehen. Laßt uns durch die Öde
des Zweifels schreiten, laßt uns an das Tor des Glaubens pochen, laßt
uns das Schicksal unserer Prüfung befragen und unserer eigenen Seele
tief ins Antlitz blicken, und glaubt mir, wir kehren nicht entmutigt heim.
Müßten wir auch ein schweres Teil der Völkerschuld auf uns selbst
nehmen, müßten wir tiefe Sühne und Einkehr von uns selbst verlangen:
Laßt uns hart sein aus Liebe und arg aus Treue. Lassen wir anderen das
Behagen der Beschönigung und des Selbstlobes, das seit vier Jahren
zur schamlosen Pest der Völker geworden ist, und suchen wir den Weg
zur alten Wahrhaftigkeit und Furchtlosigkeit, die unser vornehmstes
Erbteil war.
Mag unser Gang beklemmend sein, mag er uns zeigen, wie fern wir
dem Lande unserer Verheißung sind, genug, wenn wir heimkehren mit
der Botschaft, daß unser Schicksal bei uns selbst steht, daß wir inne
geworden sind dessen, was uns von neuer Geistigkeit, von innerer
Wiedergeburt und Weltverantwortung trennt.
Was trennt, kann sinken. Den Kampf, den wir kämpfen, und den
härteren, den wir kämpfen werden, beendet nur ein Sieg: der Sieg der
Einkehr. Und die Nation wird ihn erstreiten, die ihrer eigenen Seele

entgegentritt und sie zum Phönixopfer weiht.

Zweifel
Wir Älteren hatten keinen Grund, die Epoche unserer Jugendjahre zu
preisen. Politisch herrschte der Kampf gegen den Sozialismus in der
Form einer liberal aufgeklärten Reaktion, geistig die sogenannte exakte
Wissenschaft, wirtschaftlich der beginnende Hochkapitalismus,
gesellschaftlich die bürgerliche Streberei. Das Reich und die
Großmacht war begründet, einen Schritt darüber hinaus gab es nicht;
das Bestehende hatte recht, wer Einwände erhob, bekam es mit
Bismarck zu tun oder mit dem Satz von der Erhaltung der Kraft,
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