An Deutschlands Jugend | Page 3

Walther Rathenau
erkl��geln -- freilich, sie wissen sie nicht und werden sie nicht wissen! -- Weltanschauungen zu erdichten und zu ert��fteln, die sie nicht haben, Charaktere einander vorzuwerfen, die sie aus Zeitungen oder von mi?vergn��gten Reisenden erlernt haben. Noch heute beschimpfen sich Staatsleute und strafen sich L��gen, und deuteln an ihren Forderungen. N��chterne Polizeiideale werden angepriesen, kapitaldurstige Kreuzz��ge werden gepredigt, un��berzeugte Gerechtigkeiten werden gefordert. Und im Innern der V?lker bl��ht Kriegswucher, Geschw?tz und Roheit, w?hrend treuherzige Jugend an den Fronten verblutet.
Was sind alle Zerst?rungen und leiblichen Opfer verglichen mit den Zuckungen und Verzerrungen des europ?ischen Geistes? Dies Leiden ist nicht dem Kriege entsprungen, es lag in uns, und was wir schaudernd sehen und f��hlen, ist nur der Paroxysmus des Ausbruchs. Und diese Krankheit geht nicht mit dem Kriege, nicht durch den Krieg zu Ende; in erneuten Schreckensformen, mit inneren Giften und Zersetzungen zehrt sie weiter bis zur t?dlichen Ersch?pfung. Die Geisteskrankheit, der sittliche Wahnsinn Europas ist heilbar nur durch die Macht des Gewissens, die Gewalt der Umkehr und Einkehr. Die n��chterne Wirtschaftsrechnung verschl?gt nichts, sie mag den Apotheker bezahlen.
Ist uns Rettung bestimmt, so dringt sie aus unseren Tiefen. Kein Staatsmann kann helfen, kein Staatsakt, keine ?nderung der Einrichtungen. Denn w?re selbst alles aufs beste geschaffen und bestimmt, es zerschellte und zersplitterte am Wust der Interessen, an der ��berzeugungslosigkeit, an der Indolenz, an der geistreichen T��ftelei, am falschen, eitlen Individualismus, und s?nke zur��ck ins Chaos. Wurstelei und Gewaltherrschaft sind die einzigen Formen, die den anarchischen K?rper im Scheindasein erhalten k?nnen, und beide ert?ten vollends den Geist.
Dies ist die Frage, die dir, deutsche Jugend, gestellt ist: Kannst du noch einmal den deutschen Geist zur Einheit der ��berzeugung, zur Treue der Weltanschauung aufrufen? Es sei nicht die heilige Einheit des Mittelalters, die bleibt uns verloren; es sei eine vielf?ltige Kraft, doch darin einig, da? sie das Geistige ��ber das Irdische stellt. Dann mag sie vielsp?ltig, mag sie vom Glauben aller Welt verschieden sein, denn zwischen echten Anschauungen gibt es zwar keinen Frieden, doch keinen t?tenden Ha? und jederzeit die w?lbende Synthese.
Kannst du Menschen finden und sammeln? Nicht Heilige, nicht Genien, doch Geistige, Aufrechte, frei und weit Blickende, W��rdevolle, Spendende, Innerliche, Wirkende; nicht Umh��llte von Interessen, Standesverblendung, Seichtheit, Streberei, Phrase, Liebedienerei, eitler Gesch?ftigkeit? Denn vergi? nicht: W?re ein deutsches Paradies auf Erden verwirklicht, wir h?tten heute die Menschen nicht, es zu verwalten. Blicke um dich, auf diese Parlamente, diese ?mter, diese Akademien --, ��berall der gleiche Ton, die gleiche Redensart, die gleiche mechanisierte Sicherheit, bestenfalls hier und da ein wenig weltfremde, spintisierende Gr��belei, und nirgends ein Mensch, der auch nur von ferne den alten mannhaft Gro?en gleicht in allen diesen redenden und schaustellenden Berufen. Die Besten des Landes sind einsam an ihren stillen Werken, einseitig, aufgezehrt, gealtert, dem Treiben abhold. Wir alle m��ssen abtreten, zur��ck in Finsternis und Vergessenheit; wir haben das Unsere nicht getan, wir sind nicht die Rechten.
Unter denen, die weitab, hilflos, ihrer Unzul?nglichkeit bewu?t, der Wende unw��rdig das Geschick sich erf��llen sahen, habe auch ich meine Stimme erhoben, das Drohende ausgesprochen, das Geschehene gedeutet und das Kommende dargestellt. Was die Zukunft fordert und dereinst erzwingen wird, die ?nderung von Einrichtungen und Gesinnung, den wirtschaftlichen und sozialen Ausgleich, die Durchgeistigung und Versittlichung der Wirtschaft habe ich geschildert und die Vollendung irdischer Ordnung im Reich der Seele. Unverbr��chlich glaube ich an diese Dinge, denn sie sind im Anzuge, ja sie sind unsichtbares Schicksal geworden, denn sie sind erschaut, ausgesprochen, erh?rt und somit im Geiste verwirklicht.
Doch die Liebe zur Heimat ��berwiegt alles und verlangt, die kommende Gerechtigkeit und Adelung m?chte als ein Werk deutschen Geistes, als ein Geschenk deutschen Herzens an die V?lker in die Welt treten, Deutschland m?chte nicht zag, sp?t und verdrossen dem Weltlauf folgen, Deutschland m?chte den Anspruch auf F��hrung und Verantwortung, also den Anspruch auf eigenes Leben nicht m��rrisch und verbittert j��ngeren V?lkern preisgeben, um sich, so lange es geht, feindselig alternd hinter trockenen Rechten und b?ser Gewalt zu verschanzen.
Und abermals werde ich mutlos und frage: Wo sind die Menschen? Wo sind in dieser Zerfahrenheit der Interessen, der Stumpfheit, der selbstverliebten Geschw?tzigkeit, in dieser Unklarheit der Wertungen, in der pr��fungslosen Verbohrtheit der Standesmeinungen, in der Verfilzung der Staatseinrichtungen -- wo sind noch Ans?tze m?glich f��r die Keimkr?fte des neuen, reinen, freien Lebens? Kann es au?erhalb einer politisch beeinflu?ten Tagesmeinung ��berhaupt noch eine geistige deutsche ��berzeugung geben? Wenn deutsche Gedanken entst?nden, wirkliche Gedanken des Geistes und Herzens, Ideen, nicht Forderungen allt?glicher N��tzlichkeit noch geh?ssiger Zeitungs- und Versammlungsdunst --, k?nnen solche Gedanken in Deutschland noch Tr?ger und Verwirklicher finden? Ist unser Volk einer nicht blo? herk?mmlichen, nicht blo? interessierten, nicht blo? agitatorischen Anschauung noch f?hig? Was sind ��berhaupt die Voraussetzungen f��r die M?glichkeit einer deutschen Anschauung? Und sind sie verwirklichbar?
Die erste Pr��fung endet freilich schlimm. In keinem Lande der Erde wird soviel wie bei uns von Anschauung, Weltanschauung, Kultur und Ideal geredet. Das kommt
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