Alices Abenteuer im Wonderland | Page 9

Lewis Carroll
ich sie finden kann.« Wie sie so sprach, kam sie an
ein nettes kleines Haus, an dessen Thür ein glänzendes Messingschild
war mit dem Namen »W. Kaninchen« darauf. Sie ging hinein ohne
anzuklopfen, lief die Treppe hinauf, in großer Angst, der wirklichen
Marianne zu begegnen und zum Hause hinausgewiesen zu werden, ehe
sie den Fächer und die Handschuhe gefunden hätte.
»Wie komisch es ist,« sagte Alice bei sich, »Besorgungen für ein
Kaninchen zu machen! Vermuthlich wird mir Dinah nächstens
Aufträge geben!« Und sie dachte sich schon aus, wie es Alles kommen
würde:
»Fräulein Alice! Kommen Sie gleich, es ist Zeit zum Ausgehen für
Sie!« »Gleich Kinderfrau! aber ich muß dieses Mäuseloch hier
bewachen bis Dinah wiederkommt, und aufpassen, daß die Maus nicht
herauskommt.« »Nur würde Dinah,« dachte Alice weiter, »gewiß nicht
im Hause bleiben dürfen, wenn sie anfinge, die Leute so zu
commandiren.«
Mittlerweile war sie in ein sauberes kleines Zimmer gelangt, mit einem
Tisch vor dem Fenster und darauf (wie sie gehofft hatte) ein Fächer und
zwei oder drei Paar winziger weißer Glaceehandschuhe; sie nahm den
Fächer und ein Paar Handschuhe und wollte eben das Zimmer
verlassen, als ihr Blick auf ein Fläschchen fiel, das bei dem Spiegel
stand. Diesmal war kein Zettel mit den Worten: »Trink mich« darauf,
aber trotzdem zog sie den Pfropfen heraus und setzte es an die Lippen.
»Ich weiß, etwas Merkwürdiges muß geschehen, sobald ich esse oder
trinke; drum will ich versuchen, was dies Fläschchen thut. Ich hoffe, es

wird mich wieder größer machen; denn es ist mir sehr langweilig, solch
winzig kleines Ding zu sein!«
Richtig, und zwar schneller, als sie erwartete: ehe sie das Fläschchen
halb ausgetrunken hatte fühlte sie, wie ihr Kopf an die Decke stieß, und
mußte sich rasch bücken, um sich nicht den Hals zu brechen. Sie stellte
die Flasche hin, indem sie zu sich sagte: »Das ist ganz genug -- ich
hoffe, ich werde nicht weiter wachsen -- ich kann so schon nicht zur
Thüre hinaus -- hätte ich nur nicht so viel getrunken!«
[Illustration]
O weh! es war zu spät, dies zu wünschen. Sie wuchs und wuchs, und
mußte sehr bald auf den Fußboden niederknien; den nächsten
Augenblick war selbst dazu nicht Platz genug, sie legte sich nun hin,
mit einem Ellbogen gegen die Thür gestemmt und den andern Arm
unter dem Kopfe. Immer noch wuchs sie, und als letzte Hülfsquelle
streckte sie einen Arm zum Fenster hinaus und einen Fuß in den Kamin
hinauf, und sprach zu sich selbst: »Nun kann ich nicht mehr thun, was
auch geschehen mag. Was wird nur aus mir werden?«
Zum Glück für Alice hatte das Zauberfläschchen nun seine volle
Wirkung gehabt, und sie wuchs nicht weiter. Aber es war sehr
unbequem, und da durchaus keine Aussicht war, daß sie je wieder aus
dem Zimmer hinaus komme, so war sie natürlich sehr unglücklich.
»Es war viel besser zu Hause,« dachte die arme Alice, »wo man nicht
fortwährend größer und kleiner wurde, und sich nicht von Mäusen und
Kaninchen commandiren zu lassen brauchte. Ich wünschte fast, ich
wäre nicht in den Kaninchenbau hineingelaufen -- aber -- aber, es ist
doch komisch, diese Art Leben! Ich möchte wohl wissen, was
eigentlich mit mir vorgegangen ist! Wenn ich Märchen gelesen habe,
habe ich immer gedacht, so etwas käme nie vor, nun bin ich mitten drin
in einem! Es sollte ein Buch von mir geschrieben werden, und wenn
ich groß bin, will ich eins schreiben -- aber ich bin ja jetzt groß,«
sprach sie betrübt weiter, »wenigstens hier habe ich keinen Platz übrig,
noch größer zu werden.«

»Aber,« dachte Alice, »werde ich denn nie älter werden, als ich jetzt
bin? das ist ein Trost -- nie eine alte Frau zu sein -- aber dann -- immer
Aufgaben zu lernen zu haben! Oh, das möchte ich nicht gern!«
»O, du einfältige Alice,« schalt sie sich selbst. »Wie kannst du hier
Aufgaben lernen? Sieh doch, es ist kaum Platz genug für dich, viel
weniger für irgend ein Schulbuch!«
Und so redete sie fort; erst als eine Person, dann die andere, und hatte
so eine lange Unterhaltung mit sich selbst; aber nach einigen Minuten
hörte sie draußen eine Stimme und schwieg still, um zu horchen.
»Marianne! Marianne!« sagte die Stimme, »hole mir gleich meine
Handschuhe!« dann kam ein Trappeln von kleinen Füßen die Treppe
herauf. Alice wußte, daß es das Kaninchen war, das sie suchte, und sie
zitterte so sehr, daß sie das ganze Haus erschütterte; sie hatte ganz
vergessen, daß sie jetzt wohl tausend Mal so groß wie das Kaninchen
war und keine Ursache hatte, sich vor ihm zu fürchten.
Jetzt kam das Kaninchen an die Thür und wollte sie aufmachen; da aber
die Thür nach innen aufging und Alice's Ellbogen fest dagegen
gestemmt war, so war es ein vergeblicher Versuch. Alice hörte, wie es
zu sich selbst sprach:
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