Alices Abenteuer im Wonderland | Page 5

Lewis Carroll
und Rom -- nein, ich wette, das ist Alles
falsch! Ich muß in Clara verwandelt sein! Ich will doch einmal sehen,
ob ich sagen kann: »Bei einem Wirthe --« und sie faltete sie Hände, als
ob sie ihrer Lehrerin hersagte, und fing an; aber ihre Stimme klang rauh
und ungewohnt, und die Worte kamen nicht wie sonst: --
»Bei einem Wirthe, wunderwild, Da war ich jüngst zu Gaste, Ein
Bienennest das war sein Schild In einer braunen Tatze.
Es war der grimme Zottelbär, Bei dem ich eingekehret; Mit süßem
Honigseim hat er Sich selber wohl genähret!«

»Das kommt mir gar nicht richtig vor,« sagte die arme Alice, und
Thränen kamen ihr in die Augen, als sie weiter sprach: »Ich muß doch
Clara sein, und ich werde in dem alten kleinen Hause wohnen müssen,
und beinah keine Spielsachen zum Spielen haben, und ach! so viel zu
lernen! Nein, das habe ich mir vorgenommen: wenn ich Clara bin, will
ich hier unten bleiben! Es soll ihnen nichts helfen, wenn sie die Köpfe
zusammenstecken und herunter rufen: »Komm wieder herauf,
Herzchen!« Ich will nur hinauf sehen und sprechen: wer bin ich denn?
Sagt mir das erst, und dann, wenn ich die Person gern bin, will ich
kommen; wo nicht, so will ich hier unten bleiben, bis ich jemand
Anderes bin. -- Aber o weh!« schluchzte Alice plötzlich auf, »ich
wünschte, sie sähen herunter! Es ist mir so langweilig, hier ganz allein
zu sein!«
Als sie so sprach, sah sie auf ihre Hände hinab und bemerkte mit
Erstaunen, daß sie beim Reden einen von den weißen
Glacee-Handschuhen des Kaninchens angezogen hatte. »Wie habe ich
das nur angefangen?« dachte sie. »Ich muß wieder klein geworden
sein.« Sie stand auf, ging nach dem Tische, um sich daran zu messen,
und fand, daß sie noch ungefähr zwei Fuß hoch sei, dabei schrumpfte
sie noch zusehends ein: sie merkte bald, daß die Ursache davon der
Fächer war, den sie hielt; sie warf ihn schnell hin, noch zur rechten Zeit,
sich vor gänzlichem Verschwinden zu retten.
»Das war glücklich davon gekommen!« sagte Alice, sehr erschrocken
über die plötzliche Veränderung, aber froh, daß sie noch existirte; »und
nun in den Garten!« und sie lief eilig nach der kleinen Thür: aber ach!
die kleine Thür war wieder verschlossen und das goldene
Schlüsselchen lag auf dem Glastische wie vorher. »Und es ist
schlimmer als je,« dachte das arme Kind, »denn so klein bin ich noch
nie gewesen, nein, nie! Und ich sage, es ist zu schlecht, ist es!«
[Illustration]
Wie sie diese Worte sprach, glitt sie aus, und den nächsten Augenblick,
platsch! fiel sie bis an's Kinn in Salzwasser. Ihr erster Gedanke war, sie
sei in die See gefallen, »und in dem Fall kann ich mit der Eisenbahn
zurückreisen,« sprach sie bei sich. (Alice war einmal in ihrem Leben an

der See gewesen und war zu dem allgemeinen Schluß gelangt, daß wo
man auch an's Seeufer kommt, man eine Anzahl Bademaschinen im
Wasser findet, Kinder, die den Sand mit hölzernen Spaten aufgraben,
dann eine Reihe Wohnhäuser und dahinter eine Eisenbahn-Station);
doch merkte sie bald, daß sie sich in dem Thränenpfuhl befand, den sie
geweint hatte, als sie neun Fuß hoch war.
»Ich wünschte, ich hätte nicht so sehr geweint!« sagte Alice, als sie
umherschwamm und sich herauszuhelfen suchte; »jetzt werde ich wohl
dafür bestraft werden und in meinen eigenen Thränen ertrinken! Das
wird sonderbar sein, das! Aber Alles ist heut so sonderbar.«
In dem Augenblicke hörte sie nicht weit davon etwas in dem Pfuhle
plätschern, und sie schwamm danach, zu sehen was es sei: erst glaubte
sie, es müsse ein Wallroß oder ein Nilpferd sein; dann aber besann sie
sich, wie klein sie jetzt war, und merkte bald, daß es nur eine Maus sei,
die wie sie hineingefallen war.
»Würde es wohl etwas nützen,« dachte Alice, »diese Maus anzureden?
Alles ist so wunderlich hier unten, daß ich glauben möchte, sie kann
sprechen; auf jeden Fall habe ich das Fragen umsonst.« Demnach fing
sie an: »O Maus, weißt du, wie man aus diesem Pfuhle gelangt, ich bin
von dem Herumschwimmen ganz müde, o Maus!« (Alice dachte, so
würde eine Maus richtig angeredet; sie hatte es zwar noch nie gethan,
aber sie erinnerte sich ganz gut, in ihres Bruders lateinischer
Grammatik gelesen zu haben »Eine Maus -- einer Maus -- einer Maus
-- eine Maus -- o Maus!«) Die Maus sah sie etwas neugierig an und
schien ihr mit dem einen Auge zu blinzeln, aber sie sagte nichts.
»Vielleicht versteht sie nicht Englisch,« dachte Alice, »es ist vielleicht
eine französische Maus, die mit Wilhelm dem Eroberer herüber
gekommen ist« (denn, trotz ihrer Geschichtskenntiß hatte Alice keinen
ganz klaren Begriff, wie lange irgend ein Ereigniß her sei). Sie fing
also wieder an: »=Où est ma chatte?=« was der erste Satz in ihrem
französischen Conversationsbuche war. Die Maus
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