A Book of German Lyrics | Page 6

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versetzt
Der Hierophant. "Kein
Sterblicher, sagt sie,
Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.

Und wer mit ungeweihter, schuld'ger Hand 30 Den heiligen, verbotnen
früher hebt,
Der, spricht die Gottheit"--"Nun?"--"Der sieht die
Wahrheit." "Ein seltsamer Orakelspruch! Du selbst,
Du hättest also
niemals ihn gehoben?"
"Ich?--Wahrlich nicht! Und war auch nie dazu 35 Versucht."--"Das
fass' ich nicht. Wenn von der Wahrheit
Nur diese dünne Scheidewand
mich trennte"--
"Und ein Gesetz", fällt ihm sein Führer ein,

"Gewichtiger, mein Sohn, als du es meinst,
Ist dieser dünne Flor--für
deine Hand 40 Zwar leicht, doch zentnerschwer für dein Gewissen."
Der Jüngling ging gedankenvoll nach Hause;
Ihm raubt des Wissens
brennende Begier
Den Schlaf, er wälzt sich glühend auf dem Lager

Und rafft sich auf um Mitternacht. Zum Tempel 45 Führt unfreiwillig
ihn der scheue Tritt.
Leicht ward es ihm, die Mauer zu ersteigen,

Und mitten in das Innre der Rotonde
Trägt ein beherzter Sprung den
Wagenden.
Hier steht er nun, und grauenvoll umfängt 50 Den Einsamen die
lebenlose Stille,
Die nur der Tritte hohler Widerhall
In den
geheimen Grüften unterbricht.
Von oben durch der Kuppel Öffnung
wirft
Der Mond den bleichen, silberblauen Schein, 55 Und furchtbar
wie ein gegenwärt'ger Gott
Erglänzt durch des Gewölbes Finsternisse

In ihrem langen Schleier die Gestalt.
Er tritt hinan mit ungewissem Schritt;
Schon will die freche Hand das
Heilige berühren, 60 Da zuckt es heiß und kühl durch sein Gebein

Und stößt ihn weg mit unsichtbarem Arme.
Unglücklicher, was willst
du tun? So ruft
In seinem Innern eine treue Stimme.
Versuchen den
Allheiligen willst du? 65 Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund,

Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.
Doch, setzte nicht
derselbe Mund hinzu:
Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit

schauen?
"Sei hinter ihm, was will! Ich heb ihn auf." 70 Er rufts mit
lauter Stimm'. "Ich will sie schauen."
Schauen!
Gellt ihm ein langes Echo spottend nach.
Er spricht's und hat den Schleier aufgedeckt.
"Nun", fragt ihr, "und
was zeigte sich ihm hier?" 75 Ich weiß es nicht. Besinnungslos und
bleich,
So fanden ihn am andern Tag die Priester
Am Fußgestell der
Isis ausgestreckt.
Was er allda gesehen und erfahren,
Hat seine
Zunge nie bekannt. Auf ewig 80 War seines Lebens Heiterkeit dahin,

Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe.
"Weh dem", dies war sein
warnungsvolles Wort,
Wenn ungestüme Frager in ihn drangen,

"Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld, 85 Sie wird ihm
nimmermehr erfreulich sein!"
LUDWIG UHLAND
20. DIE LERCHEN
Welch ein Schwirren, welch ein Flug?
Sei willkommen, Lerchenzug!

Jene streift der Wiese Saum,
Diese rauschet durch den Baum.
Manche schwingt sich himmelan, 5 Jauchzend auf der lichten Bahn;

Eine, voll von Liedeslust,
Flattert hier in meiner Brust.

21. DES KNABEN BERGLIED
Ich bin vom Berg der Hirtenknab',
Seh' auf die Schlösser all herab;

Die Sonne strahlt am ersten hier,
Am längsten weilet sie bei mir;

Ich bin der Knab' vom Berge! 5
Hier ist des Stromes Mutterhaus,
Ich trink' ihn frisch vom Stein
heraus;
Er braust vom Fels in wildem Lauf,
Ich fang' ihn mit den
Armen auf;
Ich bin der Knab' vom Berge! 10

Der Berg, der ist mein Eigentum,
Da ziehn die Stürme rings herum;

Und heulen sie von Nord und Süd,
So überschallt sie doch mein
Lied:
Ich bin der Knab' vom Berge! 15
Sind Blitz und Donner unter mir,
So steh' ich hoch im Blauen hier;

Ich kenne sie und rufe zu:
Laßt meines Vaters Haus in Ruh'!
Ich bin
der Knab' vom Berge! 20
Und wann die Sturmglock' einst erschallt,
Manch Feuer auf den
Bergen wallt,
Dann steig' ich nieder, tret' ins Glied
Und schwing'
mein Schwert und sing' mein Lied:
Ich bin der Knab' vom Berge! 25

22. SCHÄFERS SONNTAGSLIED
Das ist der Tag des Herrn!
Ich bin allein auf weiter Flur;
Noch eine
Morgenglocke nur,
Nun Stille nah und fern.
Anbetend knie' ich hier. 5 O süßes Graun, geheimes Wehn,
Als
knieten viele ungesehn
Und beteten mit mir!
Der Himmel nah und fern,
Er ist so klar und feierlich, 10 So ganz, als
wollt' er öffnen sich.
Das ist der Tag des Herrn!

23. DIE KAPELLE
Droben stehet die Kapelle,
Schauet still ins Tal hinab,
Drunten singt
bei Wies' und Quelle
Froh und hell der Hirtenknab'.
Traurig tönt das Glöcklein nieder, 5 Schauerlich der Leichenchor;

Stille sind die frohen Lieder,
Und der Knabe lauscht empor.
Droben bringt man sie zu Grabe,
Die sich freuten in dem Tal; 10
Hirtenknabe, Hirtenknabe!
Dir auch singt man dort einmal.

24. MORGENLIED
Noch ahnt man kaum der Sonne Licht,
Noch sind die Morgenglocken
nicht
Im finstern Tal erklungen.
Wie still des Waldes weiter Raum!
Die Vöglein zwitschern nur im
Traum, 5 Kein Sang hat sich erschwungen.
Ich hab' mich längst ins Feld gemacht
Und habe schon dies Lied
erdacht
Und hab' es laut gesungen.

25. FRÜHLINGSGLAUBE
Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht,

Sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun,
armes Herze, sei nicht bang! 5 Nun muß sich alles, alles wenden.
Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiß nicht, was noch
werden mag,
Das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste,
tiefste Tal; 10 Nun, armes Herz, vergiß der Qual!
Nun muß sich alles,
alles wenden.

26. LOB DES FRÜHLINGS
Saatengrün, Veilchenduft,
Lerchenwirbel, Amselschlag,

Sonnenregen, linde Luft!
Wenn ich solche Worte singe,
Braucht es dann
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