Zerbin | Page 2

Jacob Michael Reinhold Lenz
Ende der Obermacht der väterlichen Gewalt
nicht würde widerstehen können, so wagte er einen herzhaften Sprung
aus all diesen Zweideutigkeiten und, ganz sich auf sich selbst
verlassend, entlief er seinem Vater, ohne außer seinem Taschengelde
einen Heller mitzunehmen.
Sich selbst alles zu danken zu haben, war nun sein Plan, sein großer
Gedanke, das Luftschloß aller seiner Wünsche. Und weil er von jeher
außerordentliche Handlungen in den Zeitungen mit einem
Enthusiasmus gelesen, der alle andere Begierden in ihm zum
Schweigen brachte, so war sein fester Gesichtspunkt, den ihm nichts
auf der Welt verrücken konnte, nun, unter einem fremden Namen, sich
bloß durch seine eignen Kräfte emporzubringen, sodann als ein
gemachter Mann zu seinem Vater zurückzukehren, und ihn, zur
Ersetzung des von ihm angerichteten Schadens, zu außerordentlichen
Handlungen der Wohltätigkeit zu bewegen, oder wenigstens nach
seinem Tode seine Erbschaft dazu zu verwenden, um auch von sich in
den Zeitungen reden zu machen. Meine Leser sehen, daß wir unsern
Helden im geringsten nicht verschönern. Die edelsten Gesinnungen
unserer Seele zeigen sich oft mehr in der Art, unsere Entwürfe
auszuführen, als in den Entwürfen selbst, die auch bei dem
vorzüglichsten Menschen eigennützig sein müssen, wenn ich den
Begriff dieses Worts so weit ausdehnen will, als er ausgedehnt werden
kann. Vielleicht liegt die Ursache in der Natur der menschlichen Seele
und ihrer Entschließungen, die, wenn sie entstehen, immer auf den
Baum der Eigenliebe gepfropft werden, und erst durch die Zeit und
Anwendung der Umstände ihre Uneigennützigkeit erhalten. Man
lobpreise mir, was man wolle, von Tugend und Weisheit; Tugend ist
nie Plan, sondern Ausführung schwieriger Plane gewesen, mögen sie
auch von andern erfunden sein.
Er wandte sich in Leipzig zuerst an den Professor Gellert, den er, durch
eine lebhafte Schilderung seiner dürftigen Umstände, und durch alle
mögliche Zeichen eines guten Kopfs, leicht dahin bewegte, daß er ihn
unentgeltlich in die Zahl seiner Zuhörer aufnahm, und ihm zugleich
eine Menge Informationen in der Stadt verschaffte, mit denen er, so

sparsam sie ihm auch bezahlt wurden, Kost und Wohnung bestreiten
konnte. Gellerts Moral war, wie natürlich, sein Lieblingsstudium; er
schrieb sie Wort für Wort nach, zeigte aber seine Hefte keinem
Menschen, sondern, wenn er durch öftere Lesung recht vertraut mit
ihnen worden war, verbrannte er sie, um sie desto besser im Gedächtnis
zu behalten.
Er trieb nach und nach auch andere Wissenschaften, und es glückte ihm,
durch seinen offenen Kopf, geheimen, ungezierten Fleiß, und
beständigen Glauben an den guten Ausgang seiner Bemühungen, daß er
von dem Professor Gellert zum Führer und Mentor eines reichen
jungen Grafen aus Dänemark empfohlen werden konnte. Er disputierte
auch über eine sehr wohl ausgearbeitete gelehrte Abhandlung von der
Unmöglichkeit, die Quadratur des Zirkels zu finden, und erhielt
dadurch die Erlaubnis, als Magister der Mathematik, ein
Privatkollegium über die doppelte Baukunst, und ein anderes über die
Algebra zu lesen, von der er ein großer Liebhaber war. Übrigens
gewann er dem Grafen, durch seine ihm natürliche Anhänglichkeit an
andere Leute, und Teilnehmen an ihre kleinsten Umstände, sein ganzes
Vertrauen ab.
Wie schlüpfrig sind doch die Pfade durchs Leben! Wie nah sind wir oft,
wenn wir den sichersten Gipfel unserer Wünsche erreicht zu haben
meinen, unserm Untergange! O du, der du die Herzen der Menschen in
Händen hast, und ihnen nach ihrem innern Wert auf die Schale legst:
sollten die besten Menschen nicht oft im Fall sein, deine Waage
anzuklagen? Aber du wägst in die Vergangenheit und in die Zukunft,
wer darf rechten, wer kann bestehen vor _dir_? Glücklich das Herz, das,
bei allen scheinbaren Ungerechtigkeiten seines Schicksals, noch immer
die Hand segnen kann, die ihn schlägt!
Unser Held war bis hieher seinem großen Zweck immer näher gerückt,
aber er hatte andere Wünsche, andere Begierden, die auch befriedigt
sein wollten. Er hatte ein reizbares, für die Vorzüge der Schönheit
äußerst empfindliches Herz. Mäßigkeit und Gesundheit des Körpers
und Geistes hatten sein Gefühl fürs bessere Geschlecht noch in seiner
ganzen Schnellkraft erhalten, und seine moralischen Grundsätze
schienen Winde zu sein, dieses Feuer immer heftiger anzublasen. Er
war oft ganz elend, so elend, daß er erschöpfte Wollustdiener, unter
denen sein Graf auch war, um ihre Gleichgültigkeit, und den Geist

freilassenden Kaltsinn beneidete; sah er aber das ungeheure Leere, das
alle ihre Stunden, selbst ihre Vergnügen, belastete, sah er, wie
jämmerlich sie sich winden und zerren mußten, um wieder einmal
einen Tropfen Freude an ihren Herzen zu fühlen; so tröstete ihn das
wieder über seine innerlichen Leiden, und machte sie ihm unendlich
schätzbar.
Der Graf Altheim war, bei seiner Ankunft in Leipzig, an einen der
reichsten Bankiers empfohlen worden, der aus einem gewissen
Eigensinn sich nie verheiraten wollte, sondern, mit seiner einzigen
jungen und sehr schönen Schwester, eine der glänzendsten
Haushaltungen in ganz Leipzig führte. Die Bekanntschaft in dem Hause
des Herrn Freundlach (so hieß der Bankier), vielleicht auch die öftern
Vorstellungen Zerbins, hatten ihn von seinen vorigen Ausschweifungen
mit Frauenzimmern
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