Wilhelm Meisters Wanderjahre, vol 3 | Page 8

Johann Wolfgang von Goethe
Worte veranla?t werden, so sind diese um so fruchtbarer und geisterhebender. Die Unterhaltungen waren daher so belehrend als erg?tzlich, denn die Freunde gaben sich wechselseitig Rechenschaft vom Gange des bisherigen Lernens und Tuns, woraus eine Bildung entstanden war, die sie wechselseitig erstaunen machte, dergestalt, da? sie sich untereinander erst selbst wieder mu?ten kennen lernen.
Eines Abends also fing Wilhelm seine Erz?hlung an: "Meine Studien als Wundarzt suchte ich sogleich in einer gro?en Anstalt der gr??ten Stadt, wo sie nur allein m?glich wird, zu f?rdern; zur Anatomie als Grundstudium wendete ich mich sogleich mit Eifer.
Auf eine sonderbare Weise, welche niemand erraten würde, war ich schon in Kenntnis der menschlichen Gestalt weit vorgeschritten, und zwar w?hrend meiner theatralischen Laufbahn; alles genau besehen, spielt denn doch der k?rperliche Mensch da die Hauptrolle, ein sch?ner Mann, eine sch?ne Frau! Ist der Direktor glücklich genug, ihrer habhaft zu werden, so sind Kom?dien--und Trag?diendichter geborgen. Der losere Zustand, in dem eine solche Gesellschaft lebt, macht ihre Genossen mehr mit der eigentlichen Sch?nheit der unverhüllten Glieder bekannt als irgendein anderes Verh?ltnis; selbst verschiedene Kostüms n?tigen, zur Evidenz zu bringen, was sonst herk?mmlich verhüllt wird. Hievon h?tt' ich viel zu sagen, so auch von k?rperlichen M?ngeln, welche der kluge Schauspieler an sich und andern kennen mu?, um sie, wo nicht zu verbessern, wenigstens zu verbergen, und auf diese Weise war ich vorbereitet genug, dem anatomischen Vortrag, der die ?u?ern Teile n?her kennen lehrte, eine folgerechte Aufmerksamkeit zu schenken; so wie mir denn auch die innern Teile nicht fremd waren, indem ein gewisses Vorgefühl davon mir immer gegenw?rtig geblieben war. Unangenehm hindernd war bei dem Studium die immer wiederholte Klage vom Mangel der Gegenst?nde, über die nicht hinreichende Anzahl der verbliebenen K?rper, die man zu so hohen Zwecken unter das Messer wünschte. Solche, wo nicht hinreichend, doch in m?glichstes Zahl zu verschaffen, hatte man harte Gesetze ergehen lassen, nicht allein Verbrecher, die ihr Individuum in jedem Sinne verwirkt, sondern auch andere k?rperlich, geistig verwahrloste Umgekommene wurden in Anspruch genommen.
Mit dem Bedürfnis wuchs die Strenge und mit dieser der Widerwille des Volks, das in sittlicher und religioser Ansicht seine Pers?nlichkeit und die Pers?nlichkeit geliebter Personen nicht aufgeben kann.
Immer weiter aber stieg das übel, indem die verwirrende Sorge hervortrat, da? man auch sogar für die friedlichen Gr?ber geliebter Abgeschiedener zu fürchten habe. Kein Alter, keine Würde, weder Hohes noch Niedriges war in seiner Ruhest?tte mehr sicher; der Hügel, den man mit Blumen geschmückt, die Inschriften, mit denen man das Andenken zu erhalten getrachtet, nichts konnte gegen die eintr?gliche Raubsucht schützen; der schmerzlichste Abschied schien aufs grausamste gest?rt, und indem man sich vom Grabe wegwendete, mu?te schon die Furcht empfunden werden, die geschmückten, beruhigten Glieder geliebter Personen getrennt, verschleppt und entwürdigt zu wissen.
Alles dieses kam wiederholt und immer durchgedroschener zur Sprache, ohne da? irgend jemand an ein Hülfsmittel gedacht h?tte oder daran h?tte denken k?nnen, und immer allgemeiner wurden die Beschwerden, als junge M?nner, die mit Aufmerksamkeit den Lehrvortrag geh?rt, sich auch mit Hand und Auge von dem bisher Gesehenen und Vernommenen überzeugen und sich die so notwendige Kenntnis immer tiefer und lebendiger der Einbildungskraft überliefern wollten.
In solchen Augenblicken entsteht eine Art von unnatürlichem wissenschaftlichem Hunger, welcher nach der widerw?rtigsten Befriedigung wie nach dem Anmutigsten und Notwendigsten zu begehren aufregt.
Schon einige Zeit hatte ein solcher Aufschub und Aufenthalt die Wissens--und Tatlustigen besch?ftigt und unterhalten, als endlich ein Fall, über den die Stadt in Bewegung geriet, eines Morgens das Für und Wider für einige Stunden heftig hervorrief. Ein sehr sch?nes M?dchen, verwirrt durch unglückliche Liebe, hatte den Tod im Wasser gesucht und gefunden; die Anatomie bem?chtigte sich derselbigen; vergebens war die Bemühung der Eltern, Verwandten, ja des Liebhabers selbst, der nur durch falschen Argwohn verd?chtig geworden. Die obern Beh?rden, die soeben das Gesetz gesch?rft hatten, durften keine Ausnahme bewilligen; auch eilte man, so schnell als m?glich die Beute zu benutzen und zur Benutzung zu verteilen."
Wilhelm, der als n?chster Aspirant gleichfalls berufen wurde, fand vor dem Sitze, den man ihm anwies, auf einem saubern Breite, reinlich zugedeckt, eine bedenkliche Aufgabe; denn als er die Hülle wegnahm, lag der sch?nste weibliche Arm zu erblicken, der sich wohl jemals um den Hals eines Jünglings geschlungen hatte. Er hielt sein Besteck in der Hand und getraute sich nicht, es zu er?ffnen; er stand und getraute nicht niederzusitzen. Der Widerwille, dieses herrliche Naturerzeugnis noch weiter zu entstellen, stritt mit der Anforderung, welche der wissensbegierige Mann an sich zu machen hat und welcher s?mtliche Umhersitzende Genüge leisteten.
In diesen Augenblicken trat ein ansehnlicher Mann zu ihm, den er zwar als einen seltenen, aber immer als einen sehr aufmerksamen Zuh?rer und Zuschauer bemerkt und demselben schon nachgefragt hatte; niemand aber konnte n?here Auskunft geben; da? es ein Bildhauer sei, darin war man einig; man hielt ihn aber auch für einen Goldmacher, der in einem gro?en, alten Hause wohne, dessen erste Flur allein
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