Wilhelm Meisters Wanderjahre, vol 2 | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
des Bedeutenden bei der Jugend entspringen. Das Leben mengt und mischt ohnehin alles durcheinander, und so haben wir auch hier das Leben jenes vortrefflichen Mannes ganz von dem Ende desselben abgesondert. Im Leben erscheint er als ein wahrer Philosoph--sto?et Euch nicht an diesen Ausdruck--, als ein Weiser im h?chsten Sinne. Er steht auf seinem Punkte fest; er wandelt seine Stra?e unverr��ckt, und indem er das Niedere zu sich heraufzieht, indem er die Unwissenden, die Armen, die Kranken seiner Weisheit, seines Reichtums, seiner Kraft teilhaftig werden l??t und sich deshalb ihnen gleichzustellen scheint, so verleugnet er nicht von der andern Seite seinen g?ttlichen Ursprung; er wagt, sich Gott gleichzustellen, ja sich f��r Gott zu erkl?ren. Auf diese Weise setzt er von Jugend auf seine Umgebung in Erstaunen, gewinnt einen Teil derselben f��r sich, regt den andern gegen sich auf und zeigt allen, denen es um eine gewisse H?he im Lehren und Leben zu tun ist, was sie von der Welt zu erwarten haben. Und so ist sein Wandel f��r den edlen Teil der Menschheit noch belehrender und fruchtbarer als sein Tod: denn zu jenen Pr��fungen ist jeder, zu diesem sind nur wenige berufen; und damit wir alles ��bergehen, was aus dieser Betrachtung folgt, so betrachtet die r��hrende Szene des Abendmahls. Hier l??t der Weise, wie immer, die Seinigen ganz eigentlich verwaist zur��ck, und indem er f��r die Guten besorgt ist, f��ttert er zugleich mit ihnen einen Verr?ter, der ihn und die Bessern zugrunde richten wird."
Mit diesen Worten er?ffnete der ?lteste eine Pforte, und Wilhelm stutzte, als er sich wieder in der ersten Halle des Eingangs fand. Sie hatten, wie er wohl merkte, indessen den ganzen Umkreis des Hofes zur��ckgelegt. "Ich hoffte", sagte Wilhelm. "Ihr w��rdet mich ans Ende f��hren, und bringt mich wieder zum Anfang."-- "F��r diesmal kann ich Euch weiter nichts zeigen", sagte der ?lteste; "mehr lassen wir unsere Z?glinge nicht sehen, mehr erkl?ren wir ihnen nicht, als was Ihr bis jetzt durchlaufen habt; das ?u?ere allgemein Weltliche einem jeden von Jugend auf, das innere besonders Geistige und Herzliche nur denen, die mit einiger Besonnenheit heranwachsen, und das ��brige, was des Jahrs nur einmal er?ffnet wird, kann nur denen mitgeteilt werden, die wir entlassen. Jene letzte Religion, die aus der Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, entspringt, jene Verehrung des Widerw?rtigen, Verha?ten, Fliehenswerten geben wir einem jeden nur ausstattungsweise in die Welt mit, damit er wisse, wo er dergleichen zu finden hat, wenn ein solches Bed��rfnis sich in ihm regen sollte. Ich lade Euch ein, nach Verlauf eines Jahres wiederzukehren, unser allgemeines Fest zu besuchen und zu sehen, wie weit Euer Sohn vorw?rts gekommen; alsdann sollt auch Ihr in das Heiligtum des Schmerzes eingeweiht werden."
"Erlaubt mir eine Frage", versetzte Wilhelm. "Habt ihr denn auch, so wie ihr das Leben dieses g?ttlichen Mannes als Lehr--und Musterbild aufstellt, sein Leiden, seinen Tod gleichfalls als ein Vorbild erhabener Duldungen herausgehoben?"--"Auf alle F?lle", sagte der ?lteste. "Hieraus machen wir kein Geheimnis; aber wir ziehen einen Schleier ��ber diese Leiden, eben weil wir sie so hoch verehren. Wir halten es f��r eine verdammungsw��rdige Frechheit, jenes Marterger��st und den daran leidenden Heiligen dem Anblick der Sonne auszusetzen, die ihr Angesicht verbarg, als eine ruchlose Welt ihr dies Schauspiel aufdrang, mit diesen tiefen Geheimnissen, in welchen die g?ttliche Tiefe des Leidens verborgen liegt, zu spielen, zu t?ndeln, zu verzieren und nicht eher zu ruhen, bis das W��rdigste gemein und abgeschmackt erscheint. So viel sei f��r diesmal genug, um Euch ��ber Euren Knaben zu beruhigen und v?llig zu ��berzeugen, da? Ihr ihn auf irgendeine Art, mehr oder weniger, aber doch nach w��nschenswerter Weise gebildet und auf alle F?lle nicht verworren, schwankend und unst?t wiederfinden sollt."
Wilhelm zauderte, indem er sich die Bilder der Vorhalle besah und ihren Sinn gedeutet w��nschte. "Auch dieses", sagte der ?lteste, "bleiben wir Euch bis ��bers Jahr schuldig. Bei dem Unterricht, den wir in der Zwischenzeit den Kindern geben, lassen wir keine Fremden zu; aber alsdann kommt und vernehmt, was unsere besten Redner ��ber diese Gegenst?nde ?ffentlich zu sagen f��r dienlich halten."
Bald nach dieser Unterredung h?rte man an der kleine Pforte pochen. Der gestrige Aufseher meldete sich, er hatte Wilhelms Pferd vorgef��hrt, und so beurlaubte sich der Freund von der Dreie, welche zum Abschied ihn dem Aufseher folgenderma?en empfahl: "Dieser wird nun zu den Vertrauten gez?hlt, und dir ist bekannt, was du ihm auf seine Fragen zu erwidern hast: denn er w��nscht gewi? noch ��ber manches, was er bei uns sah und h?rte, belehrt zu werden; Ma? und Ziel ist dir nicht verborgen."
Wilhelm hatte freilich noch einige Fragen auf dem Herzen, die er auch sogleich anbrachte. Wo sie durchritten, stellten sich die Kinder wie gestern; aber heute sah er, obgleich selten, einen und den andern Knaben, der den vorbereitenden Aufseher nicht gr��?te, von seiner Arbeit nicht aufsah und ihn unbemerkt vor��berlie?. Wilhelm fragte nun
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 62
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.