Wilhelm Meisters Wanderjahre, vol 2 | Page 8

Johann Wolfgang von Goethe
abzulenken als an die Gegenst?nde zu fesseln schien. Indessen sagte jener bei Gelegenheit: "Noch einen Vorteil der israelitischen Religion mu? ich hier erw?hnen: da? sie ihren Gott in keine Gestalt verk?rpert und uns also die Freiheit l??t, ihm eine würdige Menschengestalt zu geben, auch im Gegensatz die schlechte Abg?tterei durch Tier--und Untiergestalten zu bezeichnen."
Unser Freund hatte sich nunmehr auf einer kurzen Wanderung durch diese Hallen die Weltgeschichte wieder vergegenw?rtigt; es war ihm einiges neu in Absicht auf die Begebenheit. So waren ihm durch Zusammenstellung der Bilder, durch die Reflexionen seines Begleiters manche neue Ansichten entsprungen, und er freute sich, da? Felix durch eine so würdige sinnliche Darstellung sich jene gro?en, bedeutenden, musterhaften Ereignisse für sein ganzes Leben als wirklich, und als wenn sie neben ihm lebendig gewesen w?ren, zueignen sollte. Er betrachtete diese Bilder zuletzt nur aus den Augen des Kindes, und in diesem Sinne war er vollkommen damit zufrieden; und so waren die Wandelnden zu den traurigen, verworrenen Zeiten und endlich zu dem Untergang der Stadt und des Tempels, zum Morde, zur Verbannung, zur Sklaverei ganzer Massen dieser beharrlichen Nation gelangt. Ihre nachherigen Schicksale waren auf eine kluge Weise allegorisch vorgestellt, da eine historische, eine reale Darstellung derselben au?er den Grenzen der edlen Kunst liegt.
Hier war die bisher durchwanderte Galerie auf einmal abgeschlossen, und Wilhelm war verwundert, sich schon am Ende zu sehen. "Ich finde", sagte er zu seinem Führer, "in diesem Geschichtsgang eine Lücke. Ihr habt den Tempel Jerusalems zerst?rt und das Volk zerstreut, ohne den g?ttlichen Mann aufzuführen, der kurz vorher daselbst noch lehrte, dem sie noch kurz vorher kein Geh?r geben wollten."
"Dies zu tun, wie Ihr es verlangt, w?re ein Fehler gewesen. Das Leben dieses g?ttlichen Mannes, den Ihr bezeichnet, steht mit der Weltgeschichte seiner Zeit in keiner Verbindung. Es war ein Privatleben, seine Lehre eine Lehre für die Einzelnen. Was V?lkermassen und ihren Gliedern ?ffentlich begegnet, geh?rt der Weltgeschichte, der Weltreligion, welche wir für die erste halten. Was dem Einzelnen innerlich begegnet, geh?rt zur zweiten Religion, zur Religion der Weisen: eine solche war die, welche Christus lehrte und übte, solange er auf der Erde umherging. Deswegen ist hier das ?u?ere abgeschlossen, und ich er?ffne Euch nun das Innere."
Eine Pforte tat sich auf, und sie traten in eine ?hnliche Galerie, wo Wilhelm sogleich die Bilder der zweiten heiligen Schriften erkannte. Sie schienen von einer andern Hand zu sein als die ersten: alles war sanfter, Gestalten, Bewegungen, Umgebung, Licht und F?rbung.
"Ihr seht", sagte der Begleiter, nachdem sie an einem Teil der Bilder vorübergegangen waren, "hier weder Taten noch Begebenheiten, sondern Wunder und Gleichnisse. Es ist eine neue Welt, ein neues ?u?ere, anders als das vorige, und ein Inneres, das dort ganz fehlt. Durch Wunder und Gleichnisse wird eine neue Welt aufgetan. Jene machen das Gemeine au?erordentlich, diese das Au?erordentliche gemein. "-- "Ihr werdet die Gef?lligkeit haben", versetzte Wilhelm, "mir diese wenigen Worte umst?ndlicher auszulegen: denn ich fühle mich nicht geschickt, es selbst zu tun."--"Sie haben einen natürlichen Sinn", versetzte jener, "obgleich einen tiefen. Beispiele werden ihn am geschwindesten aufschlie?en. Es ist nichts gemeiner und gew?hnlicher als Essen und Trinken; au?erordentlich dagegen, einen Trank zu veredeln, eine Speise zu vervielf?ltigen, da? sie für eine Unzahl hinreiche. Es ist nichts gew?hnlicher als Krankheit und k?rperliche Gebrechen; aber diese durch geistige oder geistigen ?hnlichen Mittel aufheben, lindern ist au?erordentlich, und eben daher entsteht das Wunderbare des Wunders, da? das Gew?hnliche und das Au?erordentliche, das M?gliche und das Unm?gliche eins werden. Bei dem Gleichnisse, bei der Parabel ist das Umgekehrte: hier ist der Sinn, die Einsicht, der Begriff das Hohe, das Au?erordentliche, das Unerreichbare. Wenn dieser sich in einem gemeinen, gew?hnlichen, fa?lichen Bilde verk?rpert, so da? er uns als lebendig, gegenw?rtig, wirklich entgegentritt, da? wir ihn uns zueignen, ergreifen, festhalten, mit ihm wie mit unsersgleichen umgehen k?nnen, das ist denn auch eine zweite Art von Wunder und wird billig zu jenen ersten gesellt, ja vielleicht ihnen noch vorgezogen. Hier ist die lebendige Lehre ausgesprochen, die Lehre, die keinen Streit erregt; es ist keine Meinung über das, was Recht oder Unrecht ist; es ist das Rechte oder Unrechte unwidersprechlich selbst."
Dieser Teil der Galerie war kürzer, oder vielmehr es war nur der vierte Teil der Umgebung des innern Hofes. Wenn man jedoch an dem ersten nur vorbeiging, so verweilte man hier gern; man ging gern hier auf und ab. Die Gegenst?nde waren nicht so auffallend, nicht so mannigfaltig; aber desto einladender, den tiefen, stillen Sinn derselben zu erforschen. Auch kehrten die beiden Wandelnden am Ende des Ganges um, indem Wilhelm eine Bedenklichkeit ?u?erte, da? man hier eigentlich nur bis zum Abendmahle, bis zum Scheiden des Meisters von seinen Jüngern gelangt sei. Er fragte nach dem übrigen Teil der Geschichte.
"Wir sondern", versetzte der ?lteste, "bei jedem Unterricht, bei aller überlieferung sehr gerne, was nur m?glich zu sondern ist; denn dadurch allein kann der Begriff
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