Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 5

Johann Wolfgang von Goethe
leichter, alle
Zurüstungen zu ihrem Vorteil zu gebrauchen und ihn über das, was er
zu tun hatte, nur noch mehr zu verwirren.
Serlo benutzte die Todespost zu seinem Vorteil, und wirklich hatte er
auch täglich immer mehr Ursache, an eine andere Einrichtung seines
Schauspiels zu denken. Er mußte entweder seine alten Kontrakte
erneuern, wozu er keine große Lust hatte, indem mehrere Mitglieder,
die sich für unentbehrlich hielten, täglich unleidlicher wurden; oder er
mußte, wohin auch sein Wunsch ging, der Gesellschaft eine ganz neue
Gestalt geben.
Ohne selbst in Wilhelmen zu dringen, regte er Aurelien und Philinen

auf; und die übrigen Gesellen, die sich nach Engagement sehnten,
ließen unserm Freunde gleichfalls keine Ruhe, so daß er mit ziemlicher
Verlegenheit an einem Scheidewege stand. Wer hätte gedacht, daß ein
Brief von Wernern, der ganz im entgegengesetzten Sinne geschrieben
war, ihn endlich zu einer Entschließung hindrängen sollte. Wir lassen
nur den Eingang weg und geben übrigens das Schreiben mit weniger
Veränderung.

V. Buch, 2. Kapitel

Zweites Kapitel
"--So war es, und so muß es denn auch wohl recht sein, daß jeder bei
jeder Gelegenheit seinem Gewerbe nachgeht und seine Tätigkeit zeigt.
Der gute Alte war kaum verschieden, als auch in der nächsten
Viertelstunde schon nichts mehr nach seinem Sinne im Hause geschah.
Freunde, Bekannte und Verwandte drängten sich zu, besonders aber
alle Menschenarten, die bei solchen Gelegenheiten etwas zu gewinnen
haben. Man brachte, man trug, man zahlte, schrieb und rechnete; die
einen holten Wein und Kuchen, die andern tranken und aßen;
niemanden sah ich aber ernsthafter beschäftigt als die Weiber, indem
sie die Trauer aussuchten.
Du wirst mir also verzeihen, mein Lieber, wenn ich bei dieser
Gelegenheit auch an meinen Vorteil dachte, mich deiner Schwester so
hilfreich und tätig als möglich zeigte und ihr, sobald es nur
einigermaßen schicklich war, begreiflich machte, daß es nunmehr unsre
Sache sei, eine Verbindung zu beschleunigen, die unsre Väter aus
allzugroßer Umständlichkeit bisher verzögert hatten.
Nun mußt du aber ja nicht denken, daß es uns eingefallen sei, das große,
leere Haus in Besitz zu nehmen. Wir sind bescheidner und vernünftiger;
unsern Plan sollst du hören. Deine Schwester zieht nach der Heirat
gleich in unser Haus herüber, und sogar auch deine Mutter mit.
"Wie ist das möglich?" wirst du sagen; "ihr habt ja selbst in dem Neste
kaum Platz." Das ist eben die Kunst, mein Freund! Die geschickte
Einrichtung macht alles möglich, und du glaubst nicht, wieviel Platz
man findet, wenn man wenig Raum braucht. Das große Haus verkaufen
wir, wozu sich sogleich eine gute Gelegenheit darbietet; das daraus
gelöste Geld soll hundertfältige Zinsen tragen.

Ich hoffe, du bist damit einverstanden, und wünsche, daß du nichts von
den unfruchtbaren Liebhabereien deines Vaters und Großvaters geerbt
haben mögest. Dieser setzte seine höchste Glückseligkeit in eine
Anzahl unscheinbarer Kunstwerke, die niemand, ich darf wohl sagen
niemand, mit ihm genießen konnte: jener lebte in einer kostbaren
Einrichtung, die er niemand mit sich genießen ließ. Wir wollen es
anders machen, und ich hoffe deine Beistimmung.
Es ist wahr, ich selbst behalte in unserm ganzen Hause keinen Platz als
den an meinem Schreibepulte, und noch seh ich nicht ab, wo man
künftig eine Wiege hinsetzen will; aber dafür ist der Raum außer dem
Hause desto größer. Die Kaffeehäuser und Klubs für den Mann, die
Spaziergänge und Spazierfahrten für die Frau, und die schönen
Lustörter auf dem Lande für beide. Dabei ist der größte Vorteil, daß
auch unser runder Tisch ganz besetzt ist und es dem Vater unmöglich
wird, Freunde zu sehen, die sich nur desto leichtfertiger über ihn
aufhalten, je mehr er sich Mühe gegeben hat, sie zu bewirten.
Nur nichts überflüssiges im Hause! nur nicht zu viel Möbeln,
Gerätschaften, nur keine Kutsche und Pferde! Nichts als Geld, und
dann auf eine vernünftige Weise jeden Tag getan, was dir beliebt. Nur
keine Garderobe, immer das Neueste und Beste auf dem Leibe; der
Mann mag seinen Rock abtragen und die Frau den ihrigen vertrödeln,
sobald er nur einigermaßen aus der Mode kömmt. Es ist mir nichts
unerträglicher als so ein alter Kram von Besitztum. Wenn man mir den
kostbarsten Edelstein schenken wollte mit der Bedingung, ihn täglich
am Finger zu tragen, ich würde ihn nicht annehmen; denn wie läßt sich
bei einem toten Kapital nur irgendeine Freude denken? Das ist also
mein lustiges Glaubensbekenntnis: seine Geschäfte verrichtet, Geld
geschafft, sich mit den Seinigen lustig gemacht und um die übrige Welt
sich nicht mehr bekümmert, als insofern man sie nutzen kann.
Nun wirst du aber sagen: wie ist denn in eurem saubern Plane an mich
gedacht? Wo soll ich unterkommen, wenn ihr mir das väterliche Haus
verkauft und in dem eurigen nicht der mindeste Raum übrigbleibt?'
Das ist freilich der Hauptpunkt, Brüderchen, und auf den werde ich dir
gleich dienen können, wenn ich dir vorher das gebührende Lob über
deine vortrefflich angewendete Zeit werde entrichtet
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 33
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.