Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 3

Johann Wolfgang von Goethe
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Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 5
Johann Wolfgang von Goethe

Fünftes Buch
Erstes Kapitel
So hatte Wilhelm zu seinen zwei kaum geheilten Wunden abermals
eine frische dritte, die ihm nicht wenig unbequem war. Aurelie wollte
nicht zugeben, daß er sich eines Wundarztes bediente; sie selbst
verband ihn unter allerlei wunderlichen Reden, Zeremonien und
Sprüchen und setzte ihn dadurch in eine sehr peinliche Lage. Doch
nicht er allein, sondern alle Personen, die sich in ihrer Nähe befanden,
litten durch ihre Unruhe und Sonderbarkeit; niemand aber mehr als der
kleine Felix. Das lebhafte Kind war unter einem solchen Druck höchst
ungeduldig und zeigte sich immer unartiger, je mehr sie es tadelte und
zurechtwies.
Der Knabe gefiel sich in gewissen Eigenheiten, die man auch Unarten
zu nennen pflegt und die sie ihm keinesweges nachzusehen gedachte.
Er trank zum Beispiel lieber aus der Flasche als aus dem Glase, und
offenbar schmeckten ihm die Speisen aus der Schüssel besser als von
dem Teller. Eine solche Unschicklichkeit wurde nicht übersehen, und
wenn er nun gar die Türe aufließ oder zuschlug und, wenn ihm etwas
befohlen wurde, entweder nicht von der Stelle wich oder ungestüm
davonrannte, so mußte er eine große Lektion anhören, ohne daß er
darauf je einige Besserung hätte spüren lassen. Vielmehr schien die

Neigung zu Aurelien sich täglich mehr zu verlieren; in seinem Tone
war nichts Zärtliches, wenn er sie Mutter nannte, er hing vielmehr
leidenschaftlich an der alten Amme, die ihm denn freilich allen Willen
ließ.
Aber auch diese war seit einiger Zeit so krank geworden, daß man sie
aus dem Hause in ein stilles Quartier bringen mußte, und Felix hätte
sich ganz allein gesehen, wäre nicht Mignon auch ihm als ein
liebevoller Schutzgeist erschienen. Auf das artigste unterhielten sich
beide Kinder miteinander; sie lehrte ihm kleine Lieder, und er, der ein
sehr gutes Gedächtnis hatte, rezitierte sie oft zur Verwunderung der
Zuhörer. Auch wollte sie ihm die Landkarten erklären, mit denen sie
sich noch immer sehr abgab, wobei sie jedoch nicht mit der besten
Methode verfuhr. Denn eigentlich schien sie bei den Ländern kein
besonderes Interesse zu haben, als ob sie kalt oder warm seien. Von
den Weltpolen, von dem schrecklichen Eise daselbst und von der
zunehmenden Wärme, je mehr man sich von ihnen entfernte, wußte sie
sehr gut Rechenschaft zu geben. Wenn jemand reiste, fragte sie nur, ob
er nach Norden oder nach Süden gehe, und bemühte sich, die Wege auf
ihren kleinen Karten aufzufinden. Besonders wenn Wilhelm von Reisen
sprach, war sie
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