Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
Gem��t sich in einem gef��hlvollen Ausdrucke zeigen kann.
Auch glaubte ich recht in den Geist der Rolle einzudringen, wenn ich die Last der tiefen Schwermut gleichsam selbst auf mich n?hme und unter diesem Druck meinem Vorbilde durch das seltsame Labyrinth so mancher Launen und Sonderbarkeiten zu folgen suchte. So memorierte ich, und so ��bte ich mich und glaubte nach und nach mit meinem Helden zu einer Person zu werden.
Allein je weiter ich kam, desto schwerer ward mir die Vorstellung des Ganzen, und mir schien zuletzt fast unm?glich, zu einer ��bersicht zu gelangen. Nun ging ich das St��ck in einer ununterbrochenen Folge durch, und auch da wollte mir leider manches nicht passen. Bald schienen sich die Charaktere, bald der Ausdruck zu widersprechen, und ich verzweifelte fast, einen Ton zu finden, in welchem ich meine ganze Rolle mit allen Abweichungen und Schattierungen vortragen k?nnte. In diesen Irrg?ngen bem��hte ich mich lange vergebens, bis ich mich endlich auf einem ganz besondern Wege meinem Ziele zu n?hern hoffte.
Ich suchte jede Spur auf, die sich von dem Charakter Hamlets in fr��her Zeit vor dem Tode seines Vaters zeigte; ich bemerkte, was unabh?ngig von dieser traurigen Begebenheit, unabh?ngig von den nachfolgenden schrecklichen Ereignissen dieser interessante J��ngling gewesen war und was er ohne sie vielleicht geworden w?re.
Zart und edel entsprossen, wuchs die k?nigliche Blume unter den unmittelbaren Einfl��ssen der Majest?t hervor; der Begriff des Rechts und der f��rstlichen W��rde, das Gef��hl des Guten und Anst?ndigen mit dem Bewu?tsein der H?he seiner Geburt entwickelten sich zugleich in ihm. Er war ein F��rst, ein geborner F��rst, und w��nschte zu regieren, nur damit der Gute ungehindert gut sein m?chte. Angenehm von Gestalt, gesittet von Natur, gef?llig von Herzen aus, sollte er das Muster der Jugend sein und die Freude der Welt werden.
Ohne irgendeine hervorstechende Leidenschaft war seine Liebe zu Ophelien ein stilles Vorgef��hl s��?er Bed��rfnisse; sein Eifer zu ritterlichen ��bungen war nicht ganz original; vielmehr mu?te diese Lust durch das Lob, das man dem Dritten beilegte, gesch?rft und erh?ht werden; rein f��hlend, kannte er die Redlichen und wu?te die Ruhe zu sch?tzen, die ein aufrichtiges Gem��t an dem offnen Busen eines Freundes genie?t. Bis auf einen gewissen Grad hatte er in K��nsten und Wissenschaften das Gute und Sch?ne erkennen und w��rdigen gelernt; das Abgeschmackte war ihm zuwider, und wenn in seiner zarten Seele der Ha? aufkeimen konnte, so war es nur ebenso viel, als n?tig ist, um bewegliche und falsche H?flinge zu verachten und sp?ttisch mit ihnen zu spielen. Er war gelassen in seinem Wesen, in seinem Betragen einfach, weder im M��?iggange behaglich noch allzu begierig nach Besch?ftigung. Ein akademisches Hinschlendern schien er auch bei Hofe fortzusetzen. Er besa? mehr Fr?hlichkeit der Laune als des Herzens, war ein guter Gesellschafter, nachgiebig, bescheiden, besorgt, und konnte eine Beleidigung vergeben und vergessen; aber niemals konnte er sich mit dem vereinigen, der die Grenzen des Rechten, des Guten, des Anst?ndigen ��berschritt.
Wenn wir das St��ck wieder zusammen lesen werden, k?nnt ihr beurteilen, ob ich auf dem rechten Wege bin. Wenigstens hoffe ich meine Meinung durchaus mit Stellen belegen zu k?nnen."
Man gab der Schilderung lauten Beifall; man glaubte vorauszusehen, da? sich nun die Handelsweise Hamlets gar gut werde erkl?ren lassen; man freute sich ��ber diese Art, in den Geist des Schriftstellers einzudringen. Jeder nahm sich vor, auch irgendein St��ck auf diese Art zu studieren und den Sinn des Verfassers zu entwickeln.

IV. Buch, 4. Kapitel

Viertes Kapitel
Nur einige Tage mu?te die Gesellschaft an dem Orte liegenbleiben, und sogleich zeigten sich f��r verschiedene Glieder derselben nicht unangenehme Abenteuer, besonders aber ward Laertes von einer Dame angereizt, die in der Nachbarschaft ein Gut hatte, gegen die er sich aber ?u?erst kalt, ja unartig betrug und dar��ber von Philinen viele Sp?ttereien erdulden mu?te. Sie ergriff die Gelegenheit, unserm Freund die ungl��ckliche Liebesgeschichte zu erz?hlen, ��ber die der arme J��ngling dem ganzen weiblichen Geschlechte feind geworden war. "Wer wird ihm ��belnehmen", rief sie aus, "da? er ein Geschlecht ha?t, das ihm so ��bel mitgespielt hat und ihm alle ��bel, die sonst M?nner von Weibern zu bef��rchten haben, in einem sehr konzentrierten Tranke zu verschlucken gab? Stellen Sie sich vor: binnen vierundzwanzig Stunden war er Liebhaber, Br?utigam, Ehmann, Hahnrei, Patient und Witwer! Ich w��?te nicht, wie man's einem ?rger machen wollte."
Laertes lief halb lachend, halb verdrie?lich zur Stube hinaus, und Philine fing in ihrer allerliebsten Art die Geschichte zu erz?hlen an, wie Laertes als ein junger Mensch von achtzehn Jahren, eben als er bei einer Theatergesellschaft eingetroffen, ein sch?nes vierzehnj?hriges M?dchen gefunden, die eben mit ihrem Vater, der sich mit dem Direktor entzweiet, abzureisen willens gewesen. Er habe sich aus dem Stegreife sterblich verliebt, dem Vater alle m?glichen Vorstellungen getan zu bleiben und endlich versprochen, das M?dchen zu heiraten. Nach einigen angenehmen Stunden des Brautstandes sei er getraut worden, habe eine gl��ckliche Nacht als Ehmann zugebracht, darauf habe ihn seine Frau des andern
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