Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
ich doch meine Schuldigkeit getan zu haben.
So dachte ich freilich damals nicht von mir; aber es war doch die wahrhafte Gestalt meiner Seele. Meine Gesinnungen zu ?ndern und zu reinigen, waren aber auch schon Anstalten gemacht.
Der Frühling kam heran, und Narzi? besuchte mich unangemeldet zu einer Zeit, da ich ganz allein zu Hause war. Nun erschien er als Liebhaber und fragte mich, ob ich ihm mein Herz und, wenn er eine ehrenvolle, wohlbesoldete Stelle erhielte, auch dereinst meine Hand schenken wollte.
Man hatte ihn zwar in unsre Dienste genommen; allein anfangs hielt man ihn, weil man sich vor seinem Ehrgeiz fürchtete, mehr zurück, als da? man ihn schnell emporgehoben h?tte, und lie? ihn, weil er eignes Verm?gen hatte, bei einer kleinen Besoldung.
Bei aller meiner Neigung zu ihm wu?te ich, da? er der Mann nicht war, mit dem man ganz gerade handeln konnte. Ich nahm mich daher zusammen und verwies ihn an meinen Vater, an dessen Einwilligung er nicht zu zweifeln schien und mit mir erst auf der Stelle einig sein wollte. Endlich sagte ich ja, indem ich die Beistimmung meiner Eltern zur notwendigen Bedingung machte. Er sprach alsdann mit beiden f?rmlich; sie zeigten ihre Zufriedenheit, man gab sich das Wort auf den bald zu hoffenden Fall, da? man ihn weiter avancieren werde. Schwestern und Tanten wurden davon benachrichtigt und ihnen das Geheimnis auf das strengste anbefohlen.
Nun war aus einem Liebhaber ein Br?utigam geworden. Die Verschiedenheit zwischen beiden zeigte sich sehr gro?. K?nnte jemand die Liebhaber aller wohldenkenden M?dchen in Br?utigame verwandeln, so w?re es eine gro?e Wohltat für unser Geschlecht, selbst wenn auf dieses Verh?ltnis keine Ehe erfolgen sollte. Die Liebe zwischen beiden Personen nimmt dadurch nicht ab, aber sie wird vernünftiger. Unz?hlige kleine Torheiten, alle Koketterien und Launen fallen gleich hinweg. ?u?ert uns der Br?utigam, da? wir ihm in einer Morgenhaube besser als in dem sch?nsten Aufsatze gefallen, dann wird einem wohldenkenden M?dchen gewi? die Frisur gleichgültig, und es ist nichts natürlicher, als da? er auch solid denkt und lieber sich eine Hausfrau als der Welt eine Putzdocke zu bilden wünscht. Und so geht es durch alle F?cher durch.
Hat ein solches M?dchen dabei das Glück, da? ihr Br?utigam Verstand und Kenntnisse besitzt, so lernt sie mehr, als hohe Schulen und fremde L?nder geben k?nnen. Sie nimmt nicht nur alle Bildung gern an, die er ihr gibt, sondern sie sucht sich auch auf diesem Wege so immer weiterzubringen. Die Liebe macht vieles Unm?gliche m?glich, und endlich geht die dem weiblichen Geschlecht so n?tige und anst?ndige Unterwerfung sogleich an; der Br?utigam herrscht nicht wie der Ehemann; er bittet nur, und seine Geliebte sucht ihm abzumerken, was er wünscht, um es noch eher zu vollbringen, als er bittet.
So hat mich die Erfahrung gelehrt, was ich nicht um vieles missen m?chte. Ich war glücklich, wahrhaft glücklich, wie man es in der Welt sein kann, das hei?t auf kurze Zeit.
Ein Sommer ging unter diesen stillen Freuden hin. Narzi? gab mir nicht die mindeste Gelegenheit zu Beschwerden; er ward mir immer lieber, meine ganze Seele hing an ihm, das wu?te er wohl und wu?te es zu sch?tzen. Inzwischen entspann sich aus anscheinenden Kleinigkeiten etwas, das unserm Verh?ltnisse nach und nach sch?dlich wurde.
Narzi? ging als Br?utigam mit mir um, und nie wagte er es, das von mir zu begehren, was uns noch verboten war. Allein über die Grenzen der Tugend und Sittsamkeit waren wir sehr verschiedener Meinung. Ich wollte sichergehen und erlaubte durchaus keine Freiheit, als welche allenfalls die ganze Welt h?tte wissen dürfen. Er, an N?schereien gew?hnt, fand diese Di?t sehr streng; hier setzte es nun best?ndigen Widerspruch; er lobte mein Verhalten und suchte meinen Entschlu? zu untergraben.
Mir fiel das "ernsthaft" meines alten Sprachmeisters wieder ein und zugleich das Hülfsmittel, das ich damals dagegen angegeben hatte.
Mit Gott war ich wieder ein wenig bekannter geworden. Er hatte mir so einen lieben Br?utigam gegeben, und dafür wu?te ich ihm Dank. Die irdische Liebe selbst konzentrierte meinen Geist und setzte ihn in Bewegung, und meine Besch?ftigung mit Gott widersprach ihr nicht. Ganz natürlich klagte ich ihm, was mich bange machte, und bemerkte nicht, da? ich selbst das, was mich bange machte, wünschte und begehrte. Ich kam mir sehr stark vor und betete nicht etwa: "Bewahre mich vor Versuchung!" über die Versuchung war ich meinen Gedanken nach weit hinaus. In diesem losen Flitterschmuck eigner Tugend erschien ich dreist vor Gott; er stie? mich nicht weg; auf die geringste Bewegung zu ihm hinterlie? er einen sanften Eindruck in meiner Seele, und dieser Eindruck bewegte mich, ihn immer wieder aufzusuchen.

VI. Buch--3

Die ganze Welt war mir au?er Narzissen tot, nichts hatte au?er ihm einen Reiz für mich. Selbst meine Liebe zum Putz hatte nur den Zweck, ihm zu gefallen; wu?te ich, da? er mich nicht sah, so konnte ich keine Sorgfalt darauf wenden. Ich tanzte gern; wenn er aber nicht dabei war, so

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