Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 5

Johann Wolfgang von Goethe
Das Haus, worin er sich befand, kam ihm auch so wunderbar vor, er wu?te sich in seine Lage nicht zu finden. Er wollte sich ausziehen und ?ffnete seinen Mantelsack; mit seinen Nachtsachen brachte er zugleich den Schleier des Geistes hervor, den Mignon eingepackt hatte. Der Anblick vermehrte seine traurige Stimmung. ""Flieh! J��ngling, flieh!"" rief er aus, "was soll das mystische Wort hei?en? was fliehen? wohin fliehen? Weit besser h?tte der Geist mir zugerufen: "Kehre in dich selbst zur��ck!"" Er betrachtete die englischen Kupfer, die an der Wand in Rahmen hingen; gleichg��ltig sah er ��ber die meisten hinweg, endlich fand er auf dem einen ein ungl��cklich strandendes Schiff vorgestellt: ein Vater mit seinen sch?nen T?chtern erwartete den Tod von den hereindringenden Wellen. Das eine Frauenzimmer schien ?hnlichkeit mit jener Amazone zu haben; ein unaussprechliches Mitleiden ergriff unsern Freund, er f��hlte ein unwiderstehliches Bed��rfnis, seinem Herzen Luft zu machen, Tr?nen drangen aus seinem Auge, und er konnte sich nicht wieder erholen, bis ihn der Schlaf ��berw?ltigte.
Sonderbare Traumbilder erschienen ihm gegen Morgen. Er fand sich in einem Garten, den er als Knabe ?fters besucht hatte, und sah mit Vergn��gen die bekannten Alleen, Hecken und Blumenbeete wieder; Mariane begegnete ihm, er sprach liebevoll mit ihr und ohne Erinnerung irgendeines vergangenen Mi?verh?ltnisses. Gleich darauf trat sein Vater zu ihnen, im Hauskleide; und mit vertraulicher Miene, die ihm selten war, hie? er den Sohn zwei St��hle aus dem Gartenhause holen, nahm Marianen bei der Hand und f��hrte sie nach einer Laube.
Wilhelm eilte nach dem Gartensaale, fand ihn aber ganz leer, nur sah er Aurelien an dem entgegengesetzten Fenster stehen; er ging, sie anzureden, allein sie blieb unverwandt, und ob er sich gleich neben sie stellte, konnte er doch ihr Gesicht nicht sehen. Er blickte zum Fenster hinaus und sah in einem fremden Garten viele Menschen beisammen, von denen er einige sogleich erkannte. Frau Melina sa? unter einem Baum und spielte mit einer Rose, die sie in der Hand hielt; Laertes stand neben ihr und z?hlte Gold aus einer Hand in die andere. Mignon und Felix lagen im Grase, jene ausgestreckt auf dem R��cken, dieser auf dem Gesichte. Philine trat hervor und klatschte ��ber den Kindern in die H?nde, Mignon blieb unbeweglich, Felix sprang auf und floh vor Philinen. Erst lachte er im Laufen, als Philine ihn verfolgte, dann schrie er ?ngstlich, als der Harfenspieler mit gro?en, langsamen Schritten ihm nachging. Das Kind lief grade auf einen Teich los; Wilhelm eilte ihm nach, aber zu sp?t, das Kind lag im Wasser! Wilhelm stand wie eingewurzelt. Nun sah er die sch?ne Amazone an der andern Seite des Teichs, sie streckte ihre rechte Hand gegen das Kind aus und ging am Ufer hin, das Kind durchstrich das Wasser in gerader Richtung auf den Finger zu und folgte ihr nach, wie sie ging, endlich reichte sie ihm ihre Hand und zog es aus dem Teiche. Wilhelm war indessen n?her gekommen, das Kind brannte ��ber und ��ber, und es fielen feurige Tropfen von ihm herab. Wilhelm war noch besorgter, doch die Amazone nahm schnell einen wei?en Schleier vom Haupte und bedeckte das Kind damit. Das Feuer war sogleich gel?scht. Als sie den Schleier aufhob, sprangen zwei Knaben hervor, die zusammen mutwillig hin und her spielten, als Wilhelm mit der Amazone Hand in Hand durch den Garten ging und in der Entfernung seinen Vater und Marianen in einer Allee spazieren sah, die mit hohen B?umen den ganzen Garten zu umgeben schien. Er richtete seinen Weg auf beide zu und machte mit seiner sch?nen Begleiterin den Durchschnitt des Gartens, als auf einmal der blonde Friedrich ihnen in den Weg trat und sie mit gro?em Gel?chter und allerlei Possen aufhielt. Sie wollten demungeachtet ihren Weg weiter fortsetzen; da eilte er weg und lief auf jenes entfernte Paar zu; der Vater und Mariane schienen vor ihm zu fliehen, er lief nur desto schneller, und Wilhelm sah jene fast im Fluge durch die Allee hinschweben. Natur und Neigung forderten ihn auf, jenen zu H��lfe zu kommen, aber die Hand der Amazone hielt ihn zur��ck. Wie gern lie? er sich halten! Mit dieser gemischten Empfindung wachte er auf und fand sein Zimmer schon von der hellen Sonne erleuchtet.

VII. Buch, 2. Kapitel

Zweites Kapitel
Der Knabe lud Wilhelmen zum Fr��hst��ck ein; dieser fand den Abbe schon im Saale; Lothario, hie? es, sei ausgeritten; der Abbe war nicht sehr gespr?chig und schien eher nachdenklich zu sein; er fragte nach Aureliens Tode und h?rte mit Teilnahme der Erz?hlung Wilhelms zu. "Ach!" rief er aus, "wem es lebhaft und gegenw?rtig ist, welche unendliche Operationen Natur und Kunst machen m��ssen, bis ein gebildeter Mensch dasteht, wer selbst soviel als m?glich an der Bildung seiner Mitbr��der teilnimmt, der m?chte verzweifeln, wenn er sieht, wie freventlich sich oft der Mensch zerst?rt und so oft in den Fall kommt, mit oder ohne Schuld, zerst?rt zu werden. Wenn
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