Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 4

Johann Wolfgang von Goethe
traurige Auftrag, den ich ausrichten soll. La? sehen, ob ich die Rede noch ganz im Ged?chtnis habe, die den grausamen Freund besch?men soll."
Er fing darauf an, sich dieses Kunstwerk vorzusagen; es fehlte ihm auch nicht eine Silbe, und je mehr ihm sein Ged?chtnis zustatten kam, desto mehr wuchs seine Leidenschaft und sein Mut. Aureliens Leiden und Tod waren lebhaft vor seiner Seele gegenw?rtig.
"Geist meiner Freundin!" rief er aus, "umschwebe mich! und wenn es dir m?glich ist, so gib mir ein Zeichen, da? du bes?nftigt, da? du vers?hnt seist!"
Unter diesen Worten und Gedanken war er auf die H?he des Berges gekommen und sah an dessen Abhang an der andern Seite ein wunderliches Geb?ude liegen, das er sogleich f��r Lotharios Wohnung hielt. Ein altes, unregelm??iges Schlo? mit einigen T��rmen und Giebeln schien die erste Anlage dazu gewesen zu sein; allein noch unregelm??iger waren die neuen Angeb?ude, die, teils nah, teils in einiger Entfernung davon errichtet, mit dem Hauptgeb?ude durch Galerien und bedeckte G?nge zusammenhingen. Alle ?u?ere Symmetrie, jedes architektonische Ansehn schien dem Bed��rfnis der innern Bequemlichkeit aufgeopfert zu sein. Keine Spur von Wall und Graben war zu sehen, ebensowenig als von k��nstlichen G?rten und gro?en Alleen. Ein Gem��se- und Baumgarten drang bis an die H?user hinan, und kleine nutzbare G?rten waren selbst in den Zwischenr?umen angelegt. Ein heiteres D?rfchen lag in einiger Entfernung; G?rten und Felder schienen durchaus in dem besten Zustande.
In seine eignen leidenschaftlichen Betrachtungen vertieft, ritt Wilhelm weiter, ohne viel ��ber das, was er sah, nachzudenken, stellte sein Pferd in einem Gasthofe ein und eilte nicht ohne Bewegung nach dem Schlosse zu.
Ein alter Bedienter empfing ihn an der T��re und berichtete ihm mit vieler Gutm��tigkeit, da? er heute wohl schwerlich vor den Herren kommen werde; der Herr habe viel Briefe zu schreiben und schon einige seiner Gesch?ftsleute abweisen lassen. Wilhelm ward dringender, und endlich mu?te der Alte nachgeben und ihn melden. Er kam zur��ck und f��hrte Wilhelmen in einen gro?en, alten Saal. Dort ersuchte er ihn, sich zu gedulden, weil der Herr vielleicht noch eine Zeitlang ausbleiben werde. Wilhelm ging unruhig auf und ab und warf einige Blicke auf die Ritter und Frauen, deren alte Abbildungen an der Wand umher hingen, er wiederholte den Anfang seiner Rede, und sie schien ihm in Gegenwart dieser Harnische und Kragen erst recht am Platz. Sooft er etwas rauschen h?rte, setzte er sich in Positur, um seinen Gegner mit W��rde zu empfangen, ihm erst den Brief zu ��berreichen und ihn dann mit den Waffen des Vorwurfs anzufallen.
Mehrmals war er schon get?uscht worden und fing wirklich an, verdrie?lich und verstimmt zu werden, als endlich aus einer Seitent��r ein wohlgebildeter Mann in Stiefeln und einem schlichten ��berrocke heraustrat. "Was bringen Sie mir Gutes?" sagte er mit freundlicher Stimme zu Wilhelmen, "verzeihen Sie, da? ich Sie habe warten lassen."
Er faltete, indem er dieses sprach, einen Brief, den er in der Hand hielt. Wilhelm, nicht ohne Verlegenheit, ��berreichte ihm das Blatt Aureliens und sagte: "Ich bringe die letzten Worte einer Freundin, die Sie nicht ohne R��hrung lesen werden."
Lothario nahm den Brief und ging sogleich in das Zimmer zur��ck, wo er, wie Wilhelm recht gut durch die offne T��re sehen konnte, erst noch einige Briefe siegelte und ��berschrieb, dann Aureliens Brief er?ffnete und las. Er schien das Blatt einigemal durchgelesen zu haben, und Wilhelm, obgleich seinem Gef��hl nach die pathetische Rede zu dem nat��rlichen Empfang nicht recht passen wollte, nahm sich doch zusammen, ging auf die Schwelle los und wollte seinen Spruch beginnen, als eine Tapetent��re des Kabinetts sich ?ffnete und der Geistliche hereintrat.
"Ich erhalte die wunderlichste Depesche von der Welt", rief Lothario ihm entgegen; "verzeihn Sie mir", fuhr er fort, indem er sich gegen Wilhelmen wandte, "wenn ich in diesem Augenblicke nicht gestimmt bin, mich mit Ihnen weiter zu unterhalten. Sie bleiben heute nacht bei uns! Und Sie sorgen f��r unsern Gast, Abbe, da? ihm nichts abgeht."
Mit diesen Worten machte er eine Verbeugung gegen Wilhelmen, der Geistliche nahm unsern Freund bei der Hand, der nicht ohne Widerstreben folgte.
Stillschweigend gingen sie durch wunderliche G?nge und kamen in ein gar artiges Zimmer. Der Geistliche f��hrte ihn ein und verlie? ihn ohne weitere Entschuldigung. Bald darauf erschien ein munterer Knabe, der sich bei Wilhelmen als seine Bedienung ank��ndigte und das Abendessen brachte, bei der Aufwartung von der Ordnung des Hauses, wie man zu fr��hst��cken, zu speisen, zu arbeiten und sich zu vergn��gen pflegte, manches erz?hlte und besonders zu Lotharios Ruhm gar vieles vorbrachte.
So angenehm auch der Knabe war, so suchte ihn Wilhelm doch bald loszuwerden. Er w��nschte allein zu sein, denn er f��hlte sich in seiner Lage ?u?erst gedr��ckt und beklommen. Er machte sich Vorw��rfe, seinen Vorsatz so schlecht vollf��hrt, seinen Auftrag nur halb ausgerichtet zu haben. Bald nahm er sich vor, den andern Morgen das Vers?umte nachzuholen, bald ward er gewahr, da? Lotharios Gegenwart ihn zu ganz andern Gef��hlen stimmte.
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