Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
ohne Zutrauen, scheint es, als wenn sie sich vor nichts so sehr
fürchteten als vor Vernunft und gutem Geschmack und nichts so sehr
zu erhalten suchten als das Majestätsrecht ihrer persönlichen Willkür."
Wilhelm holte Atem, um seine Litanei noch weiter fortzusetzen, als ein
unmäßiges Gelächter Jarnos ihn unterbrach. "Die armen Schauspieler!"
rief er aus, warf sich in einen Sessel und lachte fort: "die armen, guten
Schauspieler! Wissen Sie denn, mein Freund", fuhr er fort, nachdem er
sich einigermaßen wieder erholt hatte, "daß Sie nicht das Theater,
sondern die Welt beschrieben haben und daß ich Ihnen aus allen
Ständen genug Figuren und Handlungen zu Ihren harten Pinselstrichen
finden wollte? Verzeihen Sie mir, ich muß wieder lachen, daß Sie
glaubten, diese schönen Qualitäten seien nur auf die Bretter gebannt."
Wilhelm faßte sich, denn wirklich hatte ihn das unbändige und
unzeitige Gelächter Jarnos verdrossen. "Sie können", sagte er, "Ihren
Menschenhaß nicht ganz verbergen, wenn Sie behaupten, daß diese
Fehler allgemein seien."

"Und es zeugt von Ihrer Unbekanntschaft mit der Welt, wenn Sie diese
Erscheinungen dem Theater so hoch anrechnen. Wahrhaftig, ich
verzeihe dem Schauspieler jeden Fehler, der aus dem Selbstbetrug und
aus der Begierde zu gefallen entspringt; denn wenn er sich und andern
nicht etwas scheint, so ist er nichts. Zum Schein ist er berufen, er muß
den augenblicklichen Beifall hochschätzen, denn er erhält keinen
andern Lohn; er muß zu glänzen suchen, denn deswegen steht er da."
"Sie erlauben", versetzte Wilhelm, "daß ich von meiner Seite
wenigstens lächele. Nie hätte ich geglaubt, daß Sie so billig, so
nachsichtig sein könnten."
"Nein, bei Gott! dies ist mein völliger, wohlbedachter Ernst. Alle
Fehler des Menschen verzeih ich dem Schauspieler, keine Fehler des
Schauspielers verzeih ich dem Menschen. Lassen Sie mich meine
Klaglieder hierüber nicht anstimmen, sie würden heftiger klingen als
die Ihrigen."
Der Chirurgus kam aus dem Kabinett, und auf Befragen, wie sich der
Kranke befinde, sagte er mit lebhafter Freundlichkeit: "Recht sehr wohl,
ich hoffe, ihn bald völlig wiederhergestellt zu sehen." Sogleich eilte er
zum Saal hinaus und erwartete Wilhelms Frage nicht, der schon den
Mund öffnete, sich nochmals und dringender nach der Brieftasche zu
erkundigen. Das Verlangen, von seiner Amazone etwas zu erfahren,
gab ihm Vertrauen zu Jarno; er entdeckte ihm seinen Fall und bat ihn
um seine Beihülfe. "Sie wissen so viel", sagte er, "sollten Sie nicht
auch das erfahren können?"
Jarno war einen Augenblick nachdenkend, dann sagte er zu seinem
jungen Freunde: "Seien Sie ruhig, und lassen Sie sich weiter nichts
merken, wir wollen der Schönen schon auf die Spur kommen. Jetzt
beunruhigt mich nur Lotharios Zustand, die Sache steht gefährlich, das
sagt mir die Freundlichkeit und der gute Trost des Wundarztes. Ich
hätte Lydien schon gerne weggeschafft, denn sie nutzt hier gar nichts,
aber ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll. Heute abend, hoff ich,
soll unser alter Medikus kommen, und dann wollen wir weiter
ratschlagen."

VII. Buch, 4. Kapitel

Viertes Kapitel

Der Medikus kam; es war der gute, alte, kleine Arzt, den wir schon
kennen und dem wir die Mitteilung des interessanten Manuskripts
verdanken. Er besuchte vor allen Dingen den Verwundeten und schien
mit dessen Befinden keinesweges zufrieden. Dann hatte er mit Jarno
eine lange Unterredung, doch ließen sie nichts merken, als sie abends
zu Tische kamen.
Wilhelm begrüßte ihn aufs freundlichste und erkundigte sich nach
seinem Harfenspieler. "Wir haben noch Hoffnung, den Unglücklichen
zurechtezubringen", versetzte der Arzt. "Dieser Mensch war eine
traurige Zugabe zu Ihrem eingeschränkten und wunderlichen Leben",
sagte Jarno. "Wie ist es ihm weiter ergangen? Lassen Sie mich es
wissen."
Nachdem man Jarnos Neugierde befriedigst hatte, fuhr der Arzt fort:
"Nie habe ich ein Gemüt in einer so sonderbaren Lage gesehen. Seit
vielen Jahren hat er an nichts, was außer ihm war, den mindesten Anteil
genommen, ja fast auf nichts gemerkt; bloß in sich gekehrt, betrachtete
er sein hohles, leeres Ich, das ihm als ein unermeßlicher Abgrund
erschien. Wie rührend war es, wenn er von diesem traurigen Zustande
sprach! "Ich sehe nichts vor mir, nichts hinter mir", rief er aus, "als eine
unendliche Nacht, in der ich mich in der schrecklichsten Einsamkeit
befinde; kein Gefühl bleibt mir als das Gefühl meiner Schuld, die doch
auch nur wie ein entferntes, unförmliches Gespenst sich rückwärts
sehen läßt. Doch da ist keine Höhe, keine Tiefe, kein Vor noch Zurück,
kein Wort drückt diesen immer gleichen Zustand aus. Manchmal ruf
ich in der Not dieser Gleichgültigkeit: 'Ewig! ewig!' mit Heftigkeit aus,
und dieses seltsame, unbegreifliche Wort ist hell und klar gegen die
Finsternis meines Zustandes. Kein Strahl einer Gottheit erscheint mir in
dieser Nacht, ich weine meine Tränen alle mir selbst und um mich
selbst. Nichts ist mir grausamer als Freundschaft und Liebe, denn sie
allein locken mir den Wunsch ab, daß die Erscheinungen, die mich
umgeben, wirklich sein möchten. Aber auch diese beiden Gespenster
sind nur aus dem
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