Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
Verh?ltnisse der Personen und der Begebenheiten, die m?chtigen Wirkungen, die aus den Charakteren und Handlungen der Hauptfiguren entstehen, und diese sind einzeln vortrefflich und die Folge, in der sie aufgestellt sind, unverbesserlich. Sie k?nnen durch keine Art von Behandlung zerst?rt, ja kaum verunstaltet werden. Diese sind's, die jedermann zu sehen verlangt, die niemand anzutasten wagt, die sich tief in die Seele eindrücken und die man, wie ich h?re, beinahe alle auf das deutsche Theater gebracht hat. Nur hat man, wie ich glaube, darin gefehlt, da? man das zweite, was bei diesem Stück zu bemerken ist, ich meine die ?u?ern Verh?ltnisse der Personen, wodurch sie von einem Orte zum andern gebracht oder auf diese und jene Weise durch gewisse zuf?llige Begebenheiten verbunden werden, für allzu unbedeutend angesehen, nur im Vorbeigehn davon gesprochen oder sie gar weggelassen hat. Freilich sind diese F?den nur dünn und lose, aber sie gehen doch durch's ganze Stück und halten zusammen, was sonst auseinanderfiele, auch wirklich auseinanderf?llt, wenn man sie wegschneidet und ein übriges getan zu haben glaubt, da? man die Enden stehenl??t.
Zu diesen ?u?ern Verh?ltnissen z?hle ich die Unruhen in Norwegen, den Krieg mit dem jungen Fortinbras, die Gesandtschaft an den alten Oheim, den geschlichteten Zwist, den Zug des jungen Fortinbras nach Polen und seine Rückkehr am Ende; angleichen die Rückkehr des Horatio von Wittenberg, die Lust Hamlets, dahin zu gehen, die Reise des Laertes nach Frankreich, seine Rückkunft, die Verschickung Hamlets nach England, seine Gefangenschaft beim Seer?uber, der Tod der beiden Hofleute auf den Uriasbrief: alles dieses sind Umst?nde und Begebenheiten, die einen Roman weit und breit machen k?nnen, die aber der Einheit dieses Stücks, in dem besonders der Held keinen Plan hat, auf das ?u?erste schaden und h?chst fehlerhaft sind."
"So h?re ich Sie einmal gerne!" rief Serlo.
"Fallen Sie mir nicht ein", versetzte Wilhelm, "Sie m?chten mich nicht immer loben. Diese Fehler sind wie flüchtige Stützen eines Geb?udes, die man nicht wegnehmen darf, ohne vorher eine feste Mauer unterzuziehen. Mein Vorschlag ist also, an jenen ersten, gro?en Situationen gar nicht zu rühren, sondern sie sowohl im ganzen als einzelnen m?glichst zu schonen, aber diese ?u?ern, einzelnen, zerstreuten und zerstreuenden Motive alle auf einmal wegzuwerfen und ihnen ein einziges zu substituieren."
"Und das w?re?" fragte Serlo, indem er sich aus seiner ruhigen Stellung aufhob.
"Es liegt auch schon im Stücke", erwiderte Wilhelm, "nur mache ich den rechten Gebrauch davon. Es sind die Unruhen in Norwegen. Hier haben Sie meinen Plan zur Prüfung.
Nach dem Tode des alten Hamlet werden die erst eroberten Norweger unruhig. Der dortige Statthalter schickt seinen Sohn Horatio, einen alten Schulfreund Hamlets, der aber an Tapferkeit und Lebensklugheit allen andern vorgelaufen ist, nach D?nemark, auf die Ausrüstung der Flotte zu dringen, welche unter dem neuen, der Schwelgerei ergebenen K?nig nur saumselig vonstatten geht. Horatio kennt den alten K?nig, denn er hat seinen letzten Schlachten beigewohnt, hat bei ihm in Gunsten gestanden, und die erste Geisterszene wird dadurch nicht verlieren. Der neue K?nig gibt sodann dem Horatio Audienz und schickt den Laertes nach Norwegen mit der Nachricht, da? die Flotte bald anlanden werde, indes Horatio den Auftrag erh?lt, die Rüstung derselben zu beschleunigen; dagegen will die Mutter nicht einwilligen, da? Hamlet, wie er wünschte, mit Horatio zur See gehe."
"Gott sei Dank!" rief Serlo, "so werden wir auch Wittenberg und die hohe Schule los, die mir immer ein leidiger Ansto? war. Ich finde Ihren Gedanken recht gut: denn au?er den zwei einzigen fernen Bildern, Norwegen und der Flotte, braucht der Zuschauer sich nichts zu denken; das übrige sieht er alles, das übrige geht alles vor, anstatt da? sonst seine Einbildungskraft in der ganzen Welt herumgejagt würde."
"Sie sehen leicht", versetzte Wilhelm, "wie ich nunmehr auch das übrige zusammenhalten kann. Wenn Hamlet dem Horatio die Missetat seines Stiefvaters entdeckt, so r?t ihm dieser, mit nach Norwegen zu gehen, sich der Armee zu versichern und mit gewaffneter Hand zurückzukehren. Da Hamlet dem K?nig und der K?nigin zu gef?hrlich wird, haben sie kein n?heres Mittel, ihn loszuwerden, als ihn nach der Flotte zu schicken und ihm Rosenkranz und Güldenstern zu Beobachtern mitzugeben; und da indes Laertes zurückkommt, soll dieser bis zum Meuchelmord erhitzte Jüngling ihm nachgeschickt werden. Die Flotte bleibt wegen ungünstigen Windes liegen; Hamlet kehrt nochmals zurück, seine Wanderung über den Kirchhof kann vielleicht glücklich motiviert werden; sein Zusammentreffen mit Laertes in Opheliens Grabe ist ein gro?er, unentbehrlicher Moment. Hierauf mag der K?nig bedenken, da? es besser sei, Hamlet auf der Stelle loszuwerden; das Fest der Abreise, der scheinbaren Vers?hnung mit Laertes wird nun feierlich begangen, wobei man Ritterspiele h?lt und auch Hamlet und Laertes fechten. Ohne die vier Leichen kann ich das Stück nicht schlie?en; es darf niemand übrigbleiben. Hamlet gibt, da nun das Wahlrecht des Volks wieder eintritt, seine Stimme sterbend dem Horatio."
"Nur geschwind", versetzte Serlo, "setzen Sie sich hin und arbeiten das Stück aus; die Idee hat v?llig
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