Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 8

Johann Wolfgang von Goethe
war erst geführt worden, als Narzi? selbst zum Degen griff. Ich war unbeschreiblich alteriert und affiziert, oder wie soll ich es ausdrücken; der Affekt, der im tiefsten Grunde des Herzens ruhte, war auf einmal losgebrochen wie eine Flamme, welche Luft bek?mmt. Und wenn Lust und Freude sehr geschickt sind, die Liebe zuerst zu erzeugen und im stillen zu n?hren, so wird sie, die von Natur herzhaft ist, durch den Schrecken am leichtesten angetrieben, sich zu entscheiden und zu erkl?ren. Man gab dem T?chterchen Arznei ein und legte es zu Bette. Mit dem frühesten Morgen eilte mein Vater zu dem verwundeten Freund, der an einem starken Wundfieber recht krank darniederlag.
Mein Vater sagte mir wenig von dem, was er mit ihm geredet hatte, und suchte mich wegen der Folgen, die dieser Vorfall haben k?nnte, zu beruhigen. Es war die Rede, ob man sich mit einer Abbitte begnügen k?nne, ob die Sache gerichtlich werden müsse, und was dergleichen mehr war. Ich kannte meinen Vater zu wohl, als da? ich ihm geglaubt h?tte, da? er diese Sache ohne Zweikampf geendigt zu sehen wünschte; allein ich blieb still, denn ich hatte von meinem Vater früh gelernt, da? Weiber in solche H?ndel sich nicht zu mischen h?tten. übrigens schien es nicht, als wenn zwischen den beiden Freunden etwas vorgefallen w?re, das mich betroffen h?tte; doch bald vertraute mein Vater den Inhalt seiner weitern Unterredung meiner Mutter. Narzi?, sagte er, sei ?u?erst gerührt von meinem geleisteten Beistand, habe ihn umarmt, sich für meinen ewigen Schuldner erkl?rt, bezeigt, er verlange kein Glück, wenn er es nicht mit mir teilen sollte; er habe sich die Erlaubnis ausgebeten, ihn als Vater ansehn zu dürfen. Mama sagte mir das alles treulich wieder, h?ngte aber die wohlmeinende Erinnerung daran, auf so etwas, das in der ersten Bewegung gesagt worden, dürfe man so sehr nicht achten. "Ja freilich", antwortete ich mit angenommener K?lte und fühlte der Himmel wei? was und wieviel dabei.
Narzi? blieb zwei Monate krank, konnte wegen der Wunde an der rechten Hand nicht einmal schreiben, bezeigte mir aber inzwischen sein Andenken durch die verbindlichste Aufmerksamkeit. Alle diese mehr als gew?hnlichen H?flichkeiten hielt ich mit dem, was ich von der Mutter erfahren hatte, zusammen, und best?ndig war mein Kopf voller Grillen. Die ganze Stadt unterhielt sich von der Begebenheit. Man sprach mit mir davon in einem besondern Tone, man zog Folgerungen daraus, die, sosehr ich sie abzulehnen suchte, mir immer sehr nahegingen. Was vorher T?ndelei und Gewohnheit gewesen war, ward nun Ernst und Neigung. Die Unruhe, in der ich lebte, war um so heftiger, je sorgf?ltiger ich sie vor allen Menschen zu verbergen suchte. Der Gedanke, ihn zu verlieren, erschreckte mich, und die M?glichkeit einer n?hern Verbindung machte mich zittern. Der Gedanke des Ehestandes hat für ein halbkluges M?dchen gewi? etwas Schreckhaftes.
Durch diese heftigen Erschütterungen ward ich wieder an mich selbst erinnert. Die bunten Bilder eines zerstreuten Lebens, die mir sonst Tag und Nacht vor den Augen schwebten, waren auf einmal weggeblasen. Meine Seele fing wieder an, sich zu regen; allein die sehr unterbrochene Bekanntschaft mit dem unsichtbaren Freunde war so leicht nicht wiederhergestellt. Wir blieben noch immer in ziemlicher Entfernung; es war wieder etwas, aber gegen sonst ein gro?er Unterschied.
Ein Zweikampf, worin der Hauptmann stark verwundet wurde, war vorüber, ohne da? ich etwas davon erfahren hatte, und die ?ffentliche Meinung war in jedem Sinne auf der Seite meines Geliebten, der endlich wieder auf dem Schauplatze erschien. Vor allen Dingen lie? er sich mit verbundnem Haupt und eingewickelter Hand in unser Haus tragen. Wie klopfte mir das Herz bei diesem Besuche! Die ganze Familie war gegenw?rtig; es blieb auf beiden Seiten nur bei allgemeinen Danksagungen und H?flichkeiten; doch fand er Gelegenheit, mir einige geheime Zeichen seiner Z?rtlichkeit zu geben, wodurch meine Unruhe nur zu sehr vermehrt ward. Nachdem er sich v?llig wieder erholt, besuchte er uns den ganzen Winter auf ebendem Fu? wie ehemals, und bei allen leisen Zeichen von Empfindung und Liebe, die er mir gab, blieb alles uner?rtert.
Auf diese Weise ward ich in steter übung gehalten. Ich konnte mich keinem Menschen vertrauen, und von Gott war ich zu weit entfernt. Ich hatte diesen w?hrend vier wilder Jahre ganz vergessen; nun dachte ich dann und wann wieder an ihn, aber die Bekanntschaft war erkaltet; es waren nur Zeremonienvisiten, die ich ihm machte, und da ich überdies, wenn ich vor ihm erschien, immer sch?ne Kleider anlegte, meine Tugend, Ehrbarkeit und Vorzüge, die ich vor andern zu haben glaubte, ihm mit Zufriedenheit vorwies, so schien er mich in dem Schmucke gar nicht zu bemerken.
Ein H?fling würde, wenn sein Fürst, von dem er sein Glück erwartet, sich so gegen ihn betrüge, sehr beunruhigt werden; mir aber war nicht übel dabei zumute. Ich hatte, was ich brauchte, Gesundheit und Bequemlichkeit; wollte sich Gott mein Andenken gefallen lassen, so war es gut; wo nicht, so glaubte
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 29
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.