Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 4

Johann Wolfgang von Goethe
sehr aufmerksam und schien sich immer zu betrüben,
sobald das Gespräch auf eine andere Materie überging. Sowenig man
sie bereden konnte, eine Rolle zu übernehmen oder auch nur, wenn
gespielt wurde, auf das Theater zu gehen, so gern und fleißig lernte sie
Oden und Lieder auswendig und erregte, wenn sie ein solches Gedicht,
gewöhnlich von der ernsten und feierlichen Art, oft unvermutet wie aus
dem Stegreife deklamierte, bei jedermann Erstaunen.
Serlo, der auf jede Spur eines aufkeimenden Talentes zu achten
gewohnt war, suchte sie aufzumuntern; am meisten aber empfahl sie
sich ihm durch einen sehr artigen, mannigfaltigen und manchmal selbst
muntern Gesang, und auf ebendiesem Wege hatte sich der
Harfenspieler seine Gunst erworben.
Serlo, ohne selbst Genie zur Musik zu haben oder irgendein Instrument
zu spielen, wußte ihren hohen Wert zu schätzen; er suchte sich sooft als
möglich diesen Genuß, der mit keinem andern verglichen werden kann,
zu verschaffen. Er hatte wöchentlich einmal Konzert, und nun hatte
sich ihm durch Mignon, den Harfenspieler und Laertes, der auf der
Violine nicht ungeschickt war, eine wunderliche kleine Hauskapelle

gebildet.
Er pflegte zu sagen: "Der Mensch ist so geneigt, sich mir dem
Gemeinsten abzugeben, Geist und Sinne stumpfen sich so leicht gegen
die Eindrücke des Schönen und Vollkommenen ab, daß man die
Fähigkeit, es zu empfinden, bei sich auf alle Weise erhalten sollte.
Denn einen solchen Genuß kann niemand ganz entbehren, und nur die
Ungewohntheit, etwas Gutes zu genießen, ist Ursache, daß viele
Menschen schon am Albernen und Abgeschmackten, wenn es nur neu
ist, Vergnügen finden. Man sollte", sagte er, "alle Tage wenigstens ein
kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde
sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte
sprechen."
Bei diesen Gesinnungen, die Serlo gewissermaßen natürlich waren,
konnte es den Personen, die ihn umgaben, nicht an angenehmer
Unterhaltung fehlen. Mitten in diesem vergnüglichen Zustande brachte
man Wilhelmen eines Tags einen schwarzgesiegelten Brief. Werners
Petschaft deutete auf eine traurige Nachricht, und er erschrak nicht
wenig, als er den Tod seines Vaters nur mit einigen Worten angezeigt
fand. Nach einer unerwarteten, kurzen Krankheit war er aus der Welt
gegangen und hatte seine häuslichen Angelegenheiten in der besten
Ordnung hinterlassen.
Diese unvermutete Nachricht traf Wilhelmen im Innersten. Er fühlte
tief, wie unempfindlich man oft Freunde und Verwandte, solange sie
sich mit uns des irdischen Aufenthaltes erfreuen, vernachlässigt und
nur dann erst die Versäumnis bereut, wenn das schöne Verhältnis
wenigstens für diesmal aufgehoben ist. Auch konnte der Schmerz über
das zeitige Absterben des braven Mannes nur durch das Gefühl
gelindert werden, daß er auf der Welt wenig geliebt, und durch die
überzeugung, daß er wenig genossen habe.
Wilhelms Gedanken wandten sich nun bald auf seine eigenen
Verhältnisse, und er fühlte sich nicht wenig beunruhigt. Der Mensch
kann in keine gefährlichere Lage versetzt werden, als wenn durch
äußere Umstände eine große Veränderung seines Zustandes bewirkt
wird, ohne daß seine Art zu empfinden und zu denken darauf
vorbereitet ist. Es gibt alsdann eine Epoche ohne Epoche, und es
entsteht nur ein desto größerer Widerspruch, je weniger der Mensch
bemerkt, daß er zu dem neuen Zustande noch nicht ausgebildet sei.

Wilhelm sah sich in einem Augenblicke frei, in welchem er mit sich
selbst noch nicht einig werden konnte. Seine Gesinnungen waren edel,
seine Absichten lauter, und seine Vorsätze schienen nicht verwerflich.
Das alles durfte er sich mit einigem Zutrauen selbst bekennen; allein er
hatte Gelegenheit genug gehabt zu bemerken, daß es ihm an Erfahrung
fehle, und er legte daher auf die Erfahrung anderer und auf die
Resultate, die sie daraus mit überzeugung ableiteten, einen
übermäßigen Wert und kam dadurch nur immer mehr in die Irre. Was
ihm fehlte, glaubte er am ersten zu erwerben, wenn er alles
Denkwürdige, was ihm in Büchern und im Gespräch vorkommen
mochte, zu erhalten und zu sammeln unternähme. Er schrieb daher
fremde und eigene Meinungen und Ideen, ja ganze Gespräche, die ihm
interessant waren, auf und hielt leider auf diese Weise das Falsche so
gut als das Wahre fest, blieb viel zu lange an einer Idee, ja man möchte
sagen an einer Sentenz hängen und verließ dabei seine natürliche Denk-
und Handelsweise, indem er oft fremden Lichtern als Leitsternen folgte.
Aureliens Bitterkeit und seines Freundes Laertes kalte Verachtung der
Menschen bestachen öfter als billig war sein Urteil: niemand aber war
ihm gefährlicher gewesen als Jarno, ein Mann, dessen heller Verstand
von gegenwärtigen Dingen ein richtiges, strenges Urteil fällte, dabei
aber den Fehler hatte, daß er diese einzelnen Urteile mit einer Art von
Allgemeinheit aussprach, da doch die Aussprüche des Verstandes
eigentlich nur einmal, und zwar in dem bestimmtesten Falle gelten und
schon unrichtig werden, wenn man sie auf den nächsten anwendet.
So entfernte sich Wilhelm, indem er mit sich selbst einig zu werden
strebte, immer mehr von der heilsamen Einheit, und bei dieser
Verwirrung ward es seinen Leidenschaften um so
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