Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
in ihrem ganzen Werte und Umfange vor; der Vater
war nicht abgeneigt, und die Mutter entdeckte heimlich ihrem Gatten
das Verhältnis Ferdinands zu Ottilien. Diesem gefiel eine so glänzende
Schwiegertochter, und die Aussicht, seinen Sohn ohne Kosten
ausstatten zu können, war ihm sehr angenehm.

"Diese Geschichte gefällt mir", sagte Luise, als der Alte geendigt hatte,
"und ob sie gleich aus dem gemeinen Leben genommen ist, so kommt
sie mir doch nicht alltäglich vor. Denn wenn wir uns selbst fragen und
andere beobachten, so finden wir, daß wir selten durch uns selbst
bewogen werden, diesem oder jenem Wunsche zu entsagen; meist sind
es die äußern Umstände, die uns dazu nötigen."
"Ich wünschte", sagte Karl, "daß wir gar nicht nötig hätten, uns etwas
zu versagen, sondern daß wir dasjenige gar nicht kennten, was wir nicht
besitzen sollen. Leider ist in unsern Zuständen alles zusammengedrängt,
alles ist bepflanzt, alle Bäume hängen voller Früchte, und wir sollen
nur immer drunter weggehen, uns an dem Schatten begnügen und auf
die schönsten Genüsse Verzicht tun."

"Lassen Sie uns", sagte Luise zum Alten, "nun Ihre Geschichte
weiterhören!"
Der Alte. "Sie ist wirklich schon aus."
Luise. "Die Entwicklung haben wir freilich gehört; nun möchten wir
aber auch gerne das Ende vernehmen."
Der Alte. "Sie unterscheiden richtig, und da Sie sich für das Schicksal
meines Freundes interessieren, so will ich Ihnen, wie es ihm ergangen,
noch kürzlich erzählen.

Befreit von der drückenden Last eines so häßlichen Vergehens, nicht
ohne bescheidne Zufriedenheit mit sich selbst dachte er nun an sein
künftiges Glück und erwartete sehnsuchtsvoll die Rückkunft Ottiliens,
um sich zu erklären und sein gegebenes Wort im ganzen Umfange zu
erfüllen. Sie kam in Gesellschaft ihrer Eltern; er eilte zu ihr, er fand sie
schöner und heiterer als jemals. Mit Ungeduld erwartete er den
Augenblick, in welchem er sie allein sprechen und ihr seine Aussichten
vorlegen könnte. Die Stunde kam, und mit aller Freude und Zärtlichkeit
der Liebe erzählte er ihr seine Hoffnungen, die Nähe seines Glücks und
den Wunsch, es mit ihr zu teilen. Allein wie verwundert war er, ja wie
bestürzt, als sie die ganze Sache sehr leichtsinnig, ja, man dürfte
beinahe sagen, höhnisch aufnahm. Sie scherzte nicht ganz fein über die
Einsiedelei, die er sich ausgesucht habe, über die Figur, die sie beide
spielen würden, wenn sie sich als Schäfer und Schäferin unter ein
Strohdach flüchteten, und was dergleichen mehr war.
Betroffen und erbittert kehrte er in sich zurück; ihr Betragen hatte ihn
verdrossen, und er ward einen Augenblick kalt. Sie war ungerecht
gegen ihn gewesen, und nun bemerkte er Fehler an ihr, die ihm sonst
verborgen geblieben waren. Auch brauchte es kein sehr helles Auge,
um zu sehen, daß ein sogenannter Vetter, der mitangekommen war, ihre
Aufmerksamkeit auf sich zog und einen großen Teil ihrer Neigung
gewonnen hatte.

Bei dem unleidlichen Schmerz, den Ferdinand empfand, nahm er sich
doch bald zusammen, und die überwindung, die ihm schon einmal
gelungen war, schien ihm zum zweitenmale möglich. Er sah Ottilien oft
und gewann über sich, sie zu beobachten; er tat freundlich, ja zärtlich
gegen sie und sie nicht weniger gegen ihn; allein ihre Reize hatten ihre
größte Macht verloren, und er fühlte bald, daß selten bei ihr etwas aus
dem Herzen kam, daß sie vielmehr nach Belieben zärtlich und kalt,
reizend und abstoßend, angenehm und launisch sein konnte. Sein
Gemüt machte sich nach und nach von ihr los, und er entschloß sich,
auch noch die letzten Fäden entzweizureißen.
Diese Operation war schmerzhafter, als er sich vorgestellt hatte. Er
fand sie eines Tages allein und nahm sich ein Herz, sie an ihr
gegebenes Wort zu erinnern und jene Augenblicke ihr ins Gedächtnis
zurückzurufen, in denen sie beide, durch das zarteste Gefühl gedrungen,
eine Abrede auf ihr künftiges Leben genommen hatten. Sie war
freundlich, ja man kann fast sagen, zärtlich; er ward weicher und
wünschte in diesem Augenblicke, daß alles anders sein möchte, als er
es sich vorgestellt hatte. Doch nahm er sich zusammen und trug ihr die
Geschichte seines bevorstehenden Etablissements mit Ruhe und Liebe
vor. Sie schien sich darüber zu freuen und gewissermaßen nur zu
bedauern, daß dadurch ihre Verbindung weiter hinausgeschoben werde.
Sie gab zu erkennen, daß sie nicht die mindeste Lust habe, die Stadt zu
verlassen; sie ließ ihre Hoffnung sehen, daß er sich durch einige Jahre
Arbeit in jenen Gegenden in den Stand setzen könnte, auch unter seinen
jetzigen Mitbürgern eine große Figur zu spielen. Sie ließ ihn nicht
undeutlich merken, daß sie von ihm erwarte, daß er künftig noch weiter
als sein Vater gehen und sich in allem noch ansehnlicher und
rechtlicher zeigen werde.
Nur zu sehr fühlte Ferdinand, daß er von einer solchen Verbindung
kein Glück zu erwarten habe, und doch war es schwer, so vielen Reizen
zu entsagen. Ja vielleicht wäre er ganz unschlüssig von ihr
weggegangen, hätte ihn nicht der Vetter
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