es nun kleine Linderungsmittel, ohne
die man es einfach nicht aushielte. Eine gewisse Artigkeit und
hygienische Strenge der Lebensführung zum Beispiel ist manchen von
uns Bedürfnis. Früh aufstehen, grausam früh, ein kaltes Bad und ein
Spaziergang hinaus in den Schnee ... Das macht, daß wir vielleicht eine
Stunde lang ein wenig zufrieden mit uns sind. Gäbe ich mich, wie ich
bin, so würde ich bis in den Nachmittag hinein im Bette liegen, glauben
Sie mir. Wenn ich früh aufstehe, so ist das eigentlich Heuchelei.«
»Nein, weshalb, Herr Spinell! Ich nenne das Selbstüberwindung ...
Nicht wahr, Frau Rätin?« -- Auch die Rätin Spatz nannte es
Selbstüberwindung.
»Heuchelei oder Selbstüberwindung, gnädige Frau! Welches Wort man
nun vorzieht. Ich bin so gramvoll ehrlich veranlagt, daß ich ...«
»Das ist es. Sicher grämen Sie sich zuviel.«
»Ja, gnädige Frau, ich gräme mich viel.«
-- Das gute Wetter hielt an. Weiß, hart und sauber, in Windstille und
lichtem Frost, in blendender Helle und bläulichem Schatten lag die
Gegend, lagen Berge, Haus und Garten, und ein zartblauer Himmel, in
dem Myriaden von flimmernden Leuchtkörperchen, von glitzernden
Kristallen zu tanzen schienen, wölbte sich makellos über dem Ganzen.
Der Gattin Herrn Klöterjahns ging es leidlich in dieser Zeit; sie war
fieberfrei, hustete fast gar nicht und aß ohne allzuviel Widerwillen.
Oftmals saß sie, wie das ihre Vorschrift war, stundenlang im sonnigen
Frost auf der Terrasse. Sie saß im Schnee, ganz in Decken und
Pelzwerk verpackt, und atmete hoffnungsvoll die reine, eisige Luft, um
ihrer Luftröhre zu dienen. Dann bemerkte sie zuweilen Herrn Spinell,
wie er, ebenfalls warm gekleidet und in Pelzschuhen, die seinen Füßen
einen phantastischen Umfang verliehen, sich im Garten erging. Er ging
mit tastenden Schritten und einer gewissen behutsamen und
steif-graziösen Armhaltung durch den Schnee, grüßte sie ehrerbietig,
wenn er zur Terrasse kam, und stieg die unteren Stufen hinan, um ein
kleines Gespräch zu beginnen.
»Heute, auf meinem Morgenspaziergang, habe ich eine schöne Frau
gesehen ... Gott, sie war schön!« sagte er, legte den Kopf auf die Seite
und spreizte die Hände.
»Wirklich, Herr Spinell? Beschreiben Sie sie mir doch!«
»Nein, das kann ich nicht. Oder ich würde Ihnen doch ein unrichtiges
Bild von ihr geben. Ich habe die Dame im Vorübergehen nur mit einem
halben Blicke gestreift, ich habe sie in Wirklichkeit nicht gesehen.
Aber der verwischte Schatten von ihr, den ich empfing, hat genügt,
meine Phantasie anzuregen und mich ein Bild mit fortnehmen lassen,
das schön ist ... Gott, es ist schön!«
Sie lachte. »Ist das Ihre Art, sich schöne Frauen zu betrachten, Herr
Spinell?«
»Ja, gnädige Frau; und es ist eine bessere Art, als wenn ich ihnen
plump und wirklichkeitsgierig ins Gesicht starrte und den Eindruck
einer fehlerhaften Tatsächlichkeit davontrüge ...«
»Wirklichkeitsgierig ... Das ist ein sonderbares Wort! Ein richtiges
Schriftstellerwort, Herr Spinell! Aber es macht Eindruck auf mich, will
ich Ihnen sagen. Es liegt so manches darin, wovon ich wenig verstehe,
etwas Unabhängiges und Freies, das sogar der Wirklichkeit die
Achtung kündigt, obgleich sie doch das Respektabelste ist, was es gibt,
ja das Respektable selbst ... Und dann begreife ich, daß es etwas gibt
außer dem Handgreiflichen, etwas Zarteres ...«
»Ich weiß nur ein Gesicht«, sagte er plötzlich mit einer seltsam
freudigen Bewegung in der Stimme, erhob seine geballten Hände zu
den Schultern und ließ in einem exaltierten Lächeln seine kariösen
Zähne sehen ... »Ich weiß nur ein Gesicht, dessen veredelte
Wirklichkeit durch meine Einbildung korrigieren zu wollen sündhaft
wäre, das ich betrachten, auf dem ich verweilen möchte, nicht Minuten,
nicht Stunden, sondern mein ganzes Leben lang, mich ganz darin
verlieren und alles Irdische darüber vergessen ...«
»Ja, ja, Herr Spinell! Nur daß Fräulein von Osterloh doch ziemlich
abstehende Ohren hat.«
Er schwieg und verbeugte sich tief. Als er wieder aufrecht stand, ruhten
seine Augen mit einem Ausdruck von Verlegenheit und Schmerz auf
dem kleinen, seltsamen Äderchen, das sich blaßblau und kränklich in
der Klarheit ihrer wie durchsichtigen Stirn verzweigte.
7
Ein Kauz, ein ganz wunderlicher Kauz! Herrn Klöterjahns Gattin
dachte zuweilen nach über ihn, denn sie hatte sehr viel Zeit zum
Nachdenken. Sei es, daß der Luftwechsel anfing, die Wirkung zu
versagen, oder daß irgendein positiv schädlicher Einfluß sie berührt
hatte: ihr Befinden war schlechter geworden, der Zustand ihrer
Luftröhre schien zu wünschen übrigzulassen, sie fühlte sich schwach,
müde, appetitlos, fieberte nicht selten; und Doktor Leander hatte ihr
aufs entschiedenste Ruhe, Stillverhalten und Vorsicht empfohlen. So
saß sie, wenn sie nicht liegen mußte, in Gesellschaft der Rätin Spatz,
verhielt sich still und hing, eine Handarbeit im Schöße, an der sie nicht
arbeitete, diesem oder jenem Gedanken nach.
Ja, er machte ihr Gedanken, dieser absonderliche Herr Spinell, und,
was das Merkwürdige war, nicht sowohl über seine als über ihre eigene
Person; auf irgendeine Weise rief er in ihr eine seltsame Neugier, ein
nie gekanntes Interesse für ihr eigenes Sein hervor. Eines Tages hatte er
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