erhalten, sich um so freier und
vollständiger ausbilden zu können. Das echte Kennzeichen der Freiheit
und Stärke einer Organisation besteht darin, wenn die unterschiedenen
Momente, die sie enthält, sich in sich vertiefen und zu vollständigen
Systemen machen, ohne Neid und Furcht nebeneinander ihr Werk
treiben und es sich treiben sehen, und daß alle wieder nur Teile eines
großen Ganzen sind. Nur was sich abgesondert in seinem Prinzip
vollkommen macht, wird ein konsequentes Ganzes, d.h. es wird etwas;
es gewinnt Tiefe und die kräftige Möglichkeit der Vielseitigkeit. Die
Besorgnis und Ängstlichkeit über Einseitigkeit pflegt zu häufig der
Schwäche anzugehören, die nur der vielseitigen inkonsequenten
Oberflächlichkeit fähig ist.
Wenn nun das Studium der alten Sprachen wie vorher die Grundlage
der gelehrten Bildung bleibt, so ist es auch in dieser Einschränkung
sehr in Anspruch genommen worden. Es scheint eine gerechte
Forderung zu sein, dass die Kultur, Kunst und Wissenschaft eines
Volkes auf ihre eigenen Beine zu stehen komme. Dürfen wir von der
Bildung der neueren Welt, unserer Aufklärung und den Fortschritten
aller Künste und Wissenschaften nicht glauben, daß sie die
griechischen und römischen Kinderschuhe vertreten haben, ihrem alten
Gängelbande entwachsen auf eigenem Grund und Boden fußen können?
Den Werken der Alten möchte immerhin ihr größer oder geringer
angeschlagener Wert bleiben, aber sie hätten in die Reihe von
Erinnerungen, gelehrter müßiger Merkwürdigkeiten, unter das blose
Geschichtliche zurückzutreten, das man aufnehmen könnte oder auch
nicht, das aber nicht schlechthin für unsere höhere Geistesbildung
Grundlage und Anfang ausmachen müsste.
Lassen wir es aber gelten, daß überhaupt vom Vortrefflichen
auszugehen ist, so hat für das höhere Studium die Literatur der
Griechen vornehmlich, und dann die der Römer, die Grundlage zu sein
und zu bleiben. Die Vollendung und Herrlichkeit dieser Meisterwerke
muss das geistige Bad, die profane Taufe sein, welche der Seele den
ersten und unverlierbaren Ton und Tinktur für Geschmack und
Wissenschaft gebe. Und zu dieser Einweihung ist nicht eine allgemeine,
äussere Bekanntschaft mit den Alten hinreichend, sondern wir müssen
uns ihnen in Kost und Wohnung geben, um ihre Luft, ihre
Vorstellungen, ihre Sitten, selbst, wenn man will, ihre Irrtümer und
Vorurteile einzusaugen und in dieser Welt einheimisch zu werden,--der
schönsten, die gewesen ist.
Wenn das erste Paradies das Paradies der Menschennatur war, so ist
dies das zweite, das höhere, das Paradies des Menschengeistes, der in
seiner schöneren Natürlichkeit, Freiheit, Tiefe und Heiterkeit wie die
Braut aus ihrer Kammer hervortritt. Die erste wilde Pracht seines
Aufgangs im Morgenlande ist durch die Herrlichkeit der Form
umschrieben und zur Schönheit gemildert; er hat seine Tiefe nicht mehr
in der Verworrenheit, Trübseligkeit oder Aufgeblasenheit, sondern sie
liegt in unbefangener Klarheit offen; seine Heiterkeit ist nicht ein
kindisches Spielen, sondern über die Wehmut hergebreitet, welche die
Härte des Schicksals kennt, aber durch sie nicht aus der Freiheit über
sie und aus dem Maße getrieben wird. Ich glaube nicht zu viel zu
behaupten, wenn ich sage, daß, wer die Werke der Alten nicht gekannt
hat, gelebt hat, ohne die Schönheit zu kennen.
In einem solchen Elemente nun, indem wir uns [darin] einhausen,
geschieht es nicht nur, daß alle Kräfte der Seele angeregt, entwickelt
und geübt werden, sondern dasselbe ist ein eigentümlicher Stoff, durch
welchen wir uns bereichern und unsere bessere Substanz bereiten.
Es ist gesagt worden, daß die Geistestätigkeit an jedem Stoffe geübt
werden könne, und als zweckmäßigster Stoff erschienen teils äußerlich
nützliche, teils die sinnlichen Gegenstände, die dem jugendlichen oder
kindlichen Alter am angemessensten seien, indem sie dem Kreise und
der Art des Vorstellens angehören, den dieses Alter schon an und für
sich selbst habe.
Wenn vielleicht, vielleicht auch nicht, das Formelle von der Materie,
das Üben selbst von dem gegenständlichen Kreise, an dem es
geschehen soll, so trennbar und gleichgültig dagegen sein könnte, so ist
es jedoch nicht um das Üben allein zu tun. Wie die Pflanze die Kräfte
ihrer Reproduktion an Licht und Luft nicht nur übt, sondern in diesem
Prozesse zugleich ihre Nahrung einsaugt, so muß der Stoff, an dem sich
der Verstand und das Vermögen der Seele überhaupt entwickelt und
übt, zugleich eine Nahrung sein. Nicht jener sogenannte nützliche Stoff,
jene sinnliche Materiatur, wie sie unmittelbar in die Vorstellungsweise
des Kindes fällt, nur der geistige Inhalt, welcher Wert und Interesse in
und für sich selbst hat, stärkt die Seele und verschafft diesen
unabhängigen Halt, diese substantielle Innerlichkeit, welche die Mutter
von Fassung, von Besonnenheit, von Gegenwart und Wachen des
Geistes ist; er erzeugt die an ihm großgezogene Seele zu einem Zwecke,
der erst die Grundlage von Brauchbarkeit zu allem ausmacht und den es
wichtig ist, in allen Ständen zu pflanzen. Haben wir nicht in neueren
Zeiten sogar Staaten selbst, welche solchen inneren Hintergrund in der
Seele ihrer Angehörigen zu erhalten und auszubauen vernachlässigten
und verachteten, sie auf die bloße Nützlichkeit und auf das Geistige nur
als auf ein Mittel richteten, in Gefahren haltungslos dastehen und in der
Mitte ihrer
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