Rede, gehalten bei der Eröffnung der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Ber | Page 2

Alexander von Humboldt
den verschiedensten
Ländern von Europa geniesse.
Wenn ich aber, im Angesichte dieser Versammlung, den Ausdruck
meiner persönlichen Gefühle zurückhalten muss; so sei es mir
wenigstens gestattet, die Patriarchen vaterländischen Ruhmes zu
nennen, welche die Sorge für ihr der Nation theures Leben von uns
entfernt hält: Goethe, den die grossen Schöpfungen dichterischer
Phantasie nicht abgehalten haben, den Forscherblick in alle Tiefen des
Naturlebens zu tauchen, und der jetzt, in ländlicher Abgeschiedenheit,
um seinen fürstlichen Freund, wie Deutschland um eine seiner
herrlichsten Zierden, trauert; Olbers, der zwei Weltkörper da entdeckt
hat, wo er sie zu suchen gelehrt; den grössten Anatomen unseres
Zeitalters, Sömmerring, der mit gleichem Eifer die Wunder des
organischen Baues, wie der Sonnenfackeln und Sonnenflecke
(Verdichtungen und Öffnungen im wallenden Lichtmeere) durchspäht;
Blumenbach, auch meinen Lehrer, der durch seine Werke und das
belebende Wort überall die Liebe zur vergleichenden Anatomie,
Physiologie und gesammten Naturkunde angefacht, und wie ein
heiliges Feuer, länger als ein halbes Jahrhundert, sorgsam gepflegt hat.
Konnte ich der Versuchung widerstehen, da die Gegenwart solcher
Männer uns nicht vergönnt ist, wenigstens durch Namen, welche die
Nachwelt wiedersagen wird, meine Rede zu schmücken?
Diese Betrachtungen über den geistigen Reichthum des Vaterlandes,
und die davon abhängige fortschreitende Entwickelung unsers Instituts,

leiten unwillkührlich auf die Hindernisse, die ein grösserer Umfang
(die anwachsende Zahl der Mitarbeiter) der Ausführung eines ernsten
wissenschaftlichen Unternehmens scheinbar entgegenstellen. Der
Hauptzweck des Vereins (Sie haben es selbst an ihrem Stiftungstage
ausgesprochen) bestehet nicht, wie in andern Akademieen, die eine
geschlossene Einheit bilden, in gegenseitiger Mittheilung von
Abhandlungen, in zahlreichen Vorlesungen, die alle zum Drucke
bestimmt, nach mehr als Jahresfrist in eignen Sammlungen erscheinen.
Der Hauptzweck dieser Gesellschaft ist die persönliche Annäherung
derer, welche dasselbe Feld der Wissenschaften bearbeiten; die
mündliche und darum mehr anregende Auswechselung von Ideen, sie
mögen sich als Thatsachen, Meinungen oder Zweifel darstellen; die
Gründung freundschaftlicher Verhältnisse, welche den Wissenschaften
Licht, dem Leben heitre Anmuth, den Sitten Duldsamkeit und Milde
gewähren.
Bei einem Stamme, der sich zur schönsten geistigen Individualität
erhoben hatte, und dessen spätesten Nachkommen, wie aus dem
Schiffbruche der Völker gerettet, wir noch heute unsre bangen
Wünsche weihen, in der Blüthezeit des hellenischen Alterthums,
offenbarte sich am kräftigsten der Unterschied zwischen Wort und
Schrift. Nicht die Schwierigkeit des Ideenverkehrs allein, nicht die
Entbehrung einer deutschen Kunst, die den Gedanken, wie auf Flügeln
durch den Raum verbreitet und ihm lange Dauer verheisst, geboten
damals den Freunden der Philosophie und Naturkunde, Hellas, oder die
dorischen und ionischen Kolonien in Gross-Griechenland und
Klein-Asien, auf langen Reisen zu durchwandern. Das alte Geschlecht
kannte den Werth des lebendigen Wortes, den begeisternden Einfluss,
welchen durch ihre Nähe hohe Meisterschaft ausübt, und die
aufhellende Macht des Gesprächs, wenn es unvorbereitet, frei und
schonend zugleich, das Gewebe wissenschaftlicher Meinungen und
Zweifel durchläuft. Entschleierung der Wahrheit ist ohne Divergenz der
Meinungen nicht denkbar, weil die Wahrheit nicht in ihrem ganzen
Umfang, auf einmal, und von allen zugleich, erkannt wird. Jeder Schritt,
der den Naturforscher seinem Ziele zu nähern scheint, führt ihn an den
Eingang neuer Labyrinthe. Die Masse der Zweifel wird nicht gemindert,
sie verbreitet sich nur, wie ein beweglicher Nebelduft, über andre und

andre Gebiete. Wer golden die Zeit nennt, wo Verschiedenheit der
Ansichten, oder wie man sich wohl auszudrücken pflegt, der Zwist der
Gelehrten, geschlichtet sein wird, hat von den Bedürfnissen der
Wissenschaft, von ihrem rastlosen Fortschreiten, eben so wenig einen
klaren Begriff, als derjenige, welcher, in träger Selbstzufriedenheit,
sich rühmt, in der Geognosie, Chemie oder Physiologie, seit mehreren
Jahrzehenden, dieselben Meinungen zu vertheidigen.
Die Gründer dieser Gesellschaft haben, in wahrem und tiefem Gefühle
der Einheit der Natur, alle Zweige des physikalischen Wissens (des
beschreibenden, messenden und experimentirenden) innigst mit
einander vereinigt. Die Benennungen Naturforscher und Ärzte sind
daher hier fast synonym. Durch irdische Bande an den Typus niederer
Gebilde gekettet, vollendet der Mensch die Reihe höherer
Organisationen. In seinem physiologischen und pathologischen
Zustande bietet er kaum eine eigene Klasse von Erscheinungen dar.
Was sich auf diesen hohen Zweck des ärztlichen Studiums bezieht, und
sich zu allgemeinen naturwissenschaftlichen Ansichten erhebt, gehört
vorzugsweise für diesen Verein. So wichtig es ist, nicht das Band zu
lösen, welches die gleichmässige Erforschung der organischen und
unorganischen Natur umfasst; so werden dennoch der zunehmende
Umfang und die allmählige Entwickelung dieses Instituts die
Nothwendigkeit fühlen lassen, ausser den gemeinschaftlichen
öffentlichen Versammlungen, denen diese Halle bestimmt ist, auch
sectionsweise ausführlichere Vorträge über einzelne Disciplinen zu
halten. Nur in solchen engeren Kreisen, nur unter Männern, welche
Gleichheit der Studien zu einander hinzieht, sind mündliche
Discussionen möglich. Ohne diese Art der Erörterung, ohne Ansicht
der gesammelten, oft schwer zu bestimmenden, und darum streitigen
Naturkörper, würde der freimüthige Verkehr Wahrheit-suchender
Männer eines belebenden Princips beraubt sein.
Unter den Anstalten, welche in dieser Stadt zur Aufnahme der
Gesellschaft getroffen worden sind, hat man vorzuglich auf die
Möglichkeit einer solchen Absonderung in Sectionen Rücksicht
genommen. Die Hoffnung, dass diese Vorkehrungen sich Ihres Beifalls
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 7
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.