Novelle | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
hinabsteigen, gleichsam in die Arena des Schauspiels, und das bes?nftigte Tier dort hereinlocken!" Das geschah; W?rtel und Mutter sahen versteckt von oben herab, wie das Kind die Wendeltreppen hinunter in dem klaren Hofraum sich zeigte und in der düstern ?ffnung gegenüber verschwand, aber sogleich seinen Fl?tenton h?ren lie?, der sich nach und nach verlor und verstummte.
Die Pause war ahnungsvoll genug; den alten, mit Gefahr bekannten J?ger beengte der seltene menschliche Fall.
Er sagte sich, da? er lieber pers?nlich dem gef?hrlichen Tiere entgegenginge; die Mutter jedoch, mit heiterem Gesicht, übergebogen horchend, lie? nicht die mindeste Unruhe bemerken.
Endlich h?rte man die Fl?te wieder; das Kind trat aus der H?hle hervor mit gl?nzend befriedigten Augen, der L?we hinter ihm drein, aber langsam und, wie es schien, mit einiger Beschwerde.
Er zeigte hie und da Lust, sich niederzulegen; doch der Knabe führte ihn im Halbkreise durch die wenig entbl?tterten, buntbelaubten B?ume, bis er sich endlich in den letzten Strahlen der Sonne, die sie durch eine Ruinenlücke hereinsandte, wie verkl?rt niedersetzte und sein beschwichtigendes Lied abermals begann, dessen Wiederholung wir uns auch nicht entziehen k?nnen: "aus den Gruben, hier im Graben h?r ich des Propheten Sang; Engel schweben, ihn zu laben, w?re da dem Guten bang?
L?w und L?win, hin und wider, schmiegen sich um ihn heran; ja, die sanften, frommen Lieder habens ihnen angetan!" Indessen hatte sich der L?we ganz knapp an das Kind hingelegt und ihm die schwere rechte Vordertatze auf dem Scho? gehoben, die der Knabe fortsingend anmutig streichelte, aber gar bald bemerkte, da? ein scharfer Dornzweig zwischen die Ballen eingestochen war.
Sorgf?ltig zog er die verletzende Spitze hervor, nahm l?chelnd sein buntseidenes Halstuch vom Nacken und verband die greuliche Tatze des Untiers, soda? die Mutter sich vor Freuden mit ausgestreckten Armen zurückbog und vielleicht angewohnterweise Beifall gerufen und geklatscht h?tte, w?re sie nicht durch einen derben Faustgriff des W?rtels erinnert worden, da? die Gefahr nicht vorüber sei.
Glorreich sang das Kind weiter, nachdem es mit wenigen T?nen vorgespielt hatte: "denn der Ewge herrscht auf Erden, über Meere herrscht sein Blick; L?wen sollen L?mmer werden, und die Welle schwankt zurück.
Blankes Schwert erstarrt im Hiebe, Glaub und Hoffnung sind erfüllt; wundert?tig ist die Liebe, die sich im Gebet enthüllt".
Ist es m?glich zu denken, da? man in den Zügen eines so grimmigen Gesch?pfes, des Tyrannen der W?lder, des Despoten des Tierreiches, einen Ausdruck von Freundlichkeit, von dankbarer Zufriedenheit habe spüren k?nnen, so geschah es hier, und wirklich sah das Kind in seiner Verkl?rung aus wie ein m?chtiger, siegreicher überwinder, jener zwar nicht wie der überwundene, denn seine Kraft blieb in ihm verborgen, aber doch wie der Gez?hmte, wie der dem eigenen friedlichen Willen Anheimgegebene.
Das Kind fl?tete und sang so weiter, nach seiner Art die Zeilen verschr?nkend und neue hinzufügend: "und so geht mit guten Kindern selger Engel gern zu Rat, b?ses Wollen zu verhindern, zu bef?rdern sch?ne Tat.
So beschw?ren, fest zu bannen liebem Sohn ans zarte Knie ihn, des Waldes Hochtyrannen, frommer Sinn und Melodie".


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