Memoiren einer Sozialistin | Page 8

Lily Braun
Ereignisse des öffentlichen Lebens,
deren Kunde an mein Ohr schlug. So weiß ich vom
deutsch-französischen Kriege, obwohl ich ihn als fast Sechsjährige
erlebte, nicht allzuviel. Ich sehe mich zwar Charpie zupfend am Fenster
sitzen oder mein Frühstücksbrötchen mitleidig für die armen Soldaten
in die Kiste legen, die die Mutter allwöchentlich zu packen pflegte; ich
erinnere mich, daß ich mit Hurra schrie bei jeder Siegesnachricht und
die Illuminationskerzen nach dem Fall von Sedan mit in die
sandgefüllten Gläser steckte. Ich weiß auch, daß mir das bunte
Schauspiel des Einzugs der Sieger in Berlin, dem ich in einem neuen
blauseidnen Kleidchen mit meiner Mutter von irgend einem
Lindenhotel aus beiwohnte, sehr gefiel, und daß mein Lorbeerkranz
statt auf die Lanze eines Kriegers auf den aufgespannten Schirm irgend
einer biedern Berliner Bürgerfrau niederfiel; aber von hochgeschwellter
patriotischer Begeisterung weiß ich nichts. Vielleicht, daß die
gedrückte Stimmung zu Haus mich beeinflußt hatte, denn hier kam eine
reine Siegesfreude nicht auf. Nicht nur, weil Söhne und Gatten allen
Wechselfällen des Krieges ausgesetzt waren, sondern auch, weil nahe,
liebe Verwandte der Großmutter im französischen Heere dienten.
Neffen von ihr kamen als Gefangene nach Potsdam; der alte Bruder
ihrer Mutter, der sich als Jüngling unter Napoleon I. die Sporen
verdient hatte, kämpfte jetzt mit derselben glühenden Vaterlandsliebe
unter seinem Nachfolger. Von dem Franzosenhaß, der den deutschen
Kindern späterer Zeit eingeprägt wurde, wußten wir infolgedessen
nichts. Ich glaube, jener Hurrapatriotismus, der sich heute breit macht,
gedeiht nur in Friedenszeiten. Wer dem Kriege Aug in Auge sieht,
dessen Vaterlandsliebe wird vielleicht nicht weniger tief, wohl aber
ernster und stiller sein. Erst wenn die großen Kämpfe der Völker lange
vorüber sind, werden sie zu Mitteln, die Begeisterung auch der Kinder

anzufachen. So kam es wohl, daß meine Phantasie von dem, was vor
sich ging, ebenso unberührt blieb wie mein Gemüt. Nur der Heimkehr
meines Vaters sah ich voll jubelnder Freude entgegen.
Er brachte uns allen Geschenke aus Frankreich mit, die er mit Sorgfalt
und in der freudigen Aussicht auf die glücklichen Gesichter der
Empfänger ausgewählt und wofür er wohl auch viel Geld ausgegeben
hatte. Über all das schöne Spielzeug, das ich erhielt, war mein Jubel
ohne Grenzen, und ein zierliches goldnes Kettlein, das mich noch mehr
entzückte, schlang ich mir grade vor dem Spiegel um den Kopf, so daß
die Perle, die wie ein Tautropfen daran hing, just unter dem Scheitel
auf die Stirne fiel -- meine schwarzen Locken erschienen mir plötzlich
gar nicht mehr so häßlich --, als das Antlitz meiner Mutter hinter mir
auftauchte. Angstvoll erstaunt wandte ich mich um; Seiden- und
Samtstoffe lagen vor ihr ausgebreitet, mit zärtlich-fragenden Augen sah
der Vater sie an, und sie -- sie freute sich nicht! Worte des Vorwurfs
über die »unnützen Ausgaben« war das erste, was ich sie sagen hörte,
und mit ungewohnt heftiger Geberde nahm sie mir die Kette aus den
Haaren, die nun -- ich wußte das nur zu gut -- in der unergründlichen
Tiefe des Silberschranks verschwinden würde, wie so manche der
schönsten Dinge, bis »Alix groß sein wird«. Dann dankte sie dem Vater
mit einer kühlen Phrase, aus der ich das Erzwungene mit dem feinen
Gefühl des Kinderherzens herausempfand. Über unsre Festtagsfreude
hatte sich ein dunkler Schatten gelegt. Papa ging verstimmt hinaus, ich
spielte verschüchtert in einem möglichst versteckten Winkel. Freude ist
eine der sensitivsten Pflanzen, die es gibt, das hab ich damals unbewußt
zum erstenmal empfunden: wenn sie in vollster Blüte steht, genügt ein
kalter Lufthauch, sie zu töten. Sie will gehütet sein und gepflegt, und
nur ihr natürliches Welken ist schmerzlos. Verschleiert blieb von da an
die Stimmung; um Liebe werbend, dankbar für jeden wärmeren Blick,
bemühte sich mein Vater um seine schöne kühle Frau. Wie oft nahm er
mich auf den Schoß, legte mein Bäckchen an seine Wange und herzte
und streichelte mich, während seine Augen ihr folgten, die im Zimmer
umherging, jedem Staubfäserchen nach, das etwa von einem
Möbelstück nicht entfernt worden war.
Bald hieß es, die Mutter sei krank und brauche längere Zeit der

Erholung. Große Koffer wurden gepackt, und wir reisten -- Großmama,
Mama und ich, meine Mademoiselle und die Jungfer -- nach der
Schweiz. Wie schnell war da der arme, einsame Papa vergessen!
Wundervolle Bilder von weißleuchtenden Gletschern, blauen Seen,
brausenden Wasserstürzen und Schauerlichen Abgründen zogen an mir
vorüber. Nirgends war mir meine Bonne mit ihrem ewigen: Tiens-toi
droite -- ne court pas si vite -- sois raisonable so widerwärtig
vorgekommen wie hier. Ins Moos sich werfen mit ausgebreiteten
Armen, laufen und springen, wie von Flügeln getragen, und über Stock
und Stein aufwärts klettern, höher, immer höher, bis zu den silbernen
Häuptern der Berge mitten in den Himmel hinein -- ach, wer das könnte!
Eines Tages hielt es mich nicht länger. Irgendwo am Vierwaldstädter
See wars, wo ich davon lief, gedankenlos, ziellos, nur erfüllt von dem
Wonnegefühl der ungebundenen Kraft. Erst als
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