Märchen für Kinder | Page 4

Hans Christian Andersen
sagte nichts, als aber die beiden andern dem Vogel den
Rücken wandten, neigte sie sich hinab, schob die Federn, die über
seinem Kopfe lagen, zur Seite und küßte ihn auf die geschlossenen
Augen. »Vielleicht war er es, der mir im Sommer so schön etwas
vorsang,« dachte sie, »wie viel Freude hat er mir verschafft, der liebe,
schöne Vogel.«
Der Maulwurf stopfte nun das Loch, durch welches das Tageslicht
hineinschien, wieder zu und begleitete die Damen nach Hause. Aber in
der Nacht konnte Däumelieschen schlechterdings nicht schlafen. Da
erhob sie sich von ihrem Bette und flocht aus Heu einen großen,
schönen Teppich, trug ihn hinunter, breitete ihn über den toten Vogel
aus und legte weiche Baumwolle, die sie im Zimmer der Feldmaus
gefunden hatte, dem Vogel zur Seite, damit er warm liegen möchte in
der kalten Erde.

»Lebewohl, du lieber schöner Vogel!« sagte sie; »Lebewohl und Dank
für deinen herrlichen Gesang im Sommer, als alle Bäume grün waren
und die Sonne auf uns so warm hernieder schien!« Dann legte sie ihr
Köpfchen an des Vogels Brust, fuhr aber sogleich erschrocken
zusammen, denn es war fast, als ob etwas in derselben klopfte. Das war
des Vogels Herz. Der Vogel war nicht tot, er lag nur in einer Betäubung,
war jetzt erwärmt worden und bekam wieder Leben.
Im Herbste fliegen alle Schwalben nach den warmen Ländern,
verspätet sich aber eine, so friert sie so, daß sie wie tot zur Erde fällt
und liegen bleibt, wohin sie fällt, und der kalte Schnee seine Decke
über sie breitet.
Däumelieschen schauderte ordentlich, so war sie erschreckt worden,
denn der Vogel war ihr gegenüber, die kaum Daumeslänge hatte, ja so
erschrecklich groß, aber sie faßte doch wieder Mut, legte die
Baumwolle dichter um die Schwalbe und holte ein Krausemünzenblatt,
dessen sie sich selbst als Deckbettes bedient hatte, und legte es über
den Kopf des Vogels.
In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm hinunter, und nun
war er lebendig, aber so matt, daß er nur einen kurzen Augenblick seine
Augen zu öffnen und Däumelieschen anzusehen vermochte, die, weil
sie kein anderes Lämpchen haben konnte, mit einem Stückchen faulen
Holzes in der Hand neben ihm stand.
»Herzlichen Dank, du niedliches kleines Kind!« sagte die kranke
Schwalbe zu ihr. »Ich bin vortrefflich erwärmt! Bald erhalte ich meine
Kräfte wieder und kann dann draußen im warmen Sonnenschein
umherfliegen.«
»Ach!« sagte sie, »es ist draußen gar kalt, es schneit und friert! Bleib'
du in deinem warmen Bettchen, ich werde dich schon pflegen!«
Darauf brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatte und
diese trank und erzählte ihr, wie sie sich an einem Dornbusche einen
ihrer Flügel verletzt hätte, weshalb sie nicht mehr so schnell wie die
andern Schwalben zu fliegen vermochte, als dieselben weit weg nach

den warmen Ländern fortzogen. Endlich war sie auf die Erde gefallen,
und was weiteres mit ihr geschehen, wußte sie nicht.
Den ganzen Winter blieb sie nun da unten und Däumelieschen nahm
sich ihrer auf das Beste an und hatte sie lieb. Weder der Maulwurf noch
die Feldmaus erfuhr das Geringste davon, weil sie die arme Schwalbe
nicht leiden mochten.
Sobald der Frühling kam und die Sonne die Erde erwärmte, sagte die
Schwalbe Däumelieschen Lebewohl, die nun das Loch öffnete, welches
der Maulwurf in die Decke gemacht hatte. Die Sonne schien herrlich
auf sie hernieder und die Schwalbe fragte, ob sie sie begleiten wollte,
sie könnte ja auf ihrem Rücken sitzen, und dann wollten sie weit hinaus
in den grünen Wald fliegen. Aber Däumelieschen wußte, daß es die alte
Feldmaus betrüben würde, wenn sie dieselbe auf solche Art verließ.
»Nein, ich kann nicht!« sagte Däumelieschen. »Lebewohl, lebewohl!
du gutes, liebes Mädchen!« sagte die Schwalbe und flog hinaus in den
Sonnenschein. Däumelieschen sah ihr nach und die Thränen traten ihr
in die Augen, denn sie hatte die Schwalbe gar lieb.
»Quivit, quivit!« sang der Vogel und flog hinein in den grünen Wald.
Däumelieschen war sehr betrübt. Sie erhielt nie Erlaubnis, in den
warmen Sonnenschein hinauszugehen. Das Korn, das auf dem Acker
über dem Hause der Feldmaus ausgesäet war, wuchs auch hoch in die
Luft empor; für das arme kleine Mädchen, das kaum Daumeslänge
hatte, war es ein völlig undurchdringlicher Wald.
»Während des Sommers sollst du nun an deiner Aussteuer nähen!«
sagte die Feldmaus zu ihr, denn nun hatte der Nachbar, der langweilige
Maulwurf in dem schwarzen Sammetpelze, sich um sie beworben.
Däumelieschen mußte nun die Spindel drehen und die Feldmaus nahm
vier Spinnen in Lohn, die Tag und Nacht spinnen und weben mußten.
Jeden Abend kam der Maulwurf auf Besuch und sprach nur immer
davon, daß, wenn der Sommer vergangen, die Sonne nicht mehr so
warm scheinen würde, dann wollte er mit Däumelieschen Hochzeit

feiern. Sie war aber gar nicht vergnügt, denn sie hatte den langweiligen
Maulwurf keineswegs lieb. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging,
und jeden Abend,
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