Märchen für Kinder | Page 2

Hans Christian Andersen
hatte.
Eines Nachts, als sie in ihrem hübschen Bettchen lag, kam durch das
Fenster, in dem eine Scheibe zerbrochen war, eine häßliche Kröte
hereingehüpft; sie hüpfte gerade auf den Tisch hernieder, wo

Däumelieschen lag und unter dem roten Rosenblatte schlief.
»Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!« sagte die Kröte, und
dann ergriff sie die Wallnußschale, in der Däumelieschen schlief, und
hüpfte mit ihr durch die Scheibe in den Garten hinunter.
Da floß ein großer, breiter Bach; aber dicht am Ufer war es sumpfig
und morastig; hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Hu, der war
eben so garstig und häßlich, das ganze Ebenbild seiner Mutter. »Koax,
Koax, breckekekex,« war alles, was er sagen konnte, als er das hübsche,
kleine Mädchen sah.
»Schwatz' nicht so laut, sonst wacht sie auf!« sagte die alte Kröte, »sie
könnte uns sonst noch entlaufen, denn sie ist so leicht wie ein
Eiderflaum! Wir wollen sie in den Bach hinaus auf eines der breiten
Wasserlilienblätter setzen, das ist für sie, die so leicht und klein ist, wie
eine Insel. Da kann sie nicht entlaufen, während wir den Festsaal unten
tief unter dem Sumpfe, wo ihr wohnen und leben sollt, in Stand
setzen.«
Die alte Kröte schwamm nun nach einem der großen, grünen Blätter,
welche inmitten des Baches aus dem Wasser ragten, als ob sie darauf
schwämmen, und setzte die Nußschale mit Däumelieschen auf dasselbe
nieder.
Das arme kleine Mädchen erwachte beim ersten Morgengrauen, und da
es wahrnahm, wo es war, fing es gar bitterlich an zu weinen, denn
Wasser umgab von allen Seiten das große grüne Blatt.
Die alte Kröte saß unten im Sumpfe und schmückte ihr Zimmer mit
Schilf und gelben Wasserlilien, denn für die neue Schwiegertochter
sollte alles auf das Feinste hergerichtet werden. Darauf schwamm sie
mit dem garstigen Sohne zu dem Blatte hinaus, wo Däumelieschen
stand. Die alte Kröte verneigte sich vor ihr bis tief ins Wasser hinein
und sagte: »Hier stell' ich dir meinen Sohn vor, der dein Mann werden
soll. Ihr werdet unten im Sumpfe ganz prächtig wohnen.«
»Koax, Koax, breckekekex!« war alles, was der Sohn sagen konnte.

Darauf schwamm die alte Kröte mit ihrem Sohn fort und sie nahmen
Däumelieschens Bett für die neue Ausstattung gleich mit. Da saß das
arme kleine Mädchen und weinte heiße Thränen auf das grüne Blatt
hinab, denn sie wollte weder bei der häßlichen Kröte wohnen, noch
ihren häßlichen Sohn zum Manne haben. Die kleinen Fische, welche
unten im Wasser schwammen, hatten die Kröte recht wohl gesehen und
gehört, was sie sagte. Sie wollten Däumelieschen gern vor der Kröte
und ihrem häßlichen Sohne retten und nagten mit ihren scharfen
Zähnen den Stiel des Blattes ab und nun schwamm das Blatt mit
Däumelieschen hinab, weit, weit fort, wohin die Kröte nicht gelangen
konnte.
Däumelieschen segelte an gar vielen Städten vorüber, und die kleinen
Vögel saßen in den Büschen, sahen sie und sangen: »Welch niedliches
kleines Mädchen!« Weiter und immer weiter schwamm das Blatt mit
ihr; so reiste denn Däumelieschen ins Ausland.
Ein allerliebster kleiner Schmetterling wurde nicht müde sie zu
umflattern und schwebte endlich auf das Blatt hernieder, denn er
konnte Däumelieschen gar wohl leiden. Diese war hoch erfreut, denn
die Kröte konnte sie jetzt nicht mehr erreichen, und es war köstlich, wo
sie segelte. Die Sonne schien auf das Wasser und dieses glänzte wie
schimmerndes Gold. Da nahm sie ihren Gürtel, schlang das eine Ende
desselben um den Schmetterling und befestigte das andere am Blatte.
Das glitt jetzt weit schneller das Wasser hinunter und sie mit, denn sie
stand ja auf dem Blatte.
Plötzlich kam ein großer Maikäfer angeflogen, der sie gewahrte und
augenblicklich seine Klauen um ihren schlanken Leib schlug und mit
ihr auf einen Baum flog. Aber das grüne Blatt schwamm den Bach
hinab und der Schmetterling flog mit, denn er war an das Blatt
gebunden und konnte sich auch nicht befreien.
Gott, wie sehr erschrak das arme Däumelieschen, als der Maikäfer mit
ihr auf den Baum hinaufflog! Am meisten betrübte sie jedoch der
Gedanke an den schönen, weißen Schmetterling, den sie an das Blatt
gebunden hatte. Konnte er nicht loskommen, mußte er ja rettungslos
verhungern.

Der Maikäfer setzte sich mit Däumelieschen auf das größte Blatt des
Baumes, speiste sie mit dem Blütenhonig und sagte ihr, sie wäre sehr
schön, obgleich sie einem Maikäfer in keinem Stücke ähnelte. Später
kamen noch viele Maikäfer zu Besuch; sie beguckten Däumelieschen
von allen Seiten und die Maikäferfräulein rümpften die Fühlhörner und
sagten: »Sie hat ja nur zwei Füße; das sieht doch zu jämmerlich aus!«
»Wie häßlich sie ist!« sagten auch die alten Maikäferfrauen, und
trotzdem war Däumelieschen so schön. So kam sie auch dem Maikäfer
vor, der sie entführt hatte, da aber alle anderen darin übereinstimmten,
sie wäre häßlich, so glaubte er es zuletzt ebenfalls und wollte sie nun
gar nicht haben; sie konnte gehen, wohin sie
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