haben, - und dass jeder Einzelne
von ihnen gerade sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und
als berechtigten Herrn aller übrigen Triebe darstellen möchte. Denn
jeder Trieb ist herrschsüchtig: und als solcher versucht er zu
philosophiren. - Freilich: bei den Gelehrten, den eigentlich
wissenschaftlichen Menschen, mag es anders stehn - "besser", wenn
man will -, da mag es wirklich so Etwas wie einen Erkenntnisstrieb
geben, irgend ein kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut
aufgezogen, tapfer darauf los arbeitet, ohne dass die gesammten
übrigen Triebe des Gelehrten wesentlich dabei betheiligt sind. Die
eigentlichen "Interessen" des Gelehrten liegen deshalb gewöhnlich
ganz wo anders, etwa in der Familie oder im Gelderwerb oder in der
Politik; ja es ist beinahe gleichgültig, ob seine kleine Maschine an diese
oder jene Stelle der Wissenschaft gestellt wird, und ob der
"hoffnungsvolle" junge Arbeiter aus sich einen guten Philologen oder
Pilzekenner oder Chemiker macht: - es bezeichnet ihn nicht, dass er
dies oder jenes wird. Umgekehrt ist an dem Philosophen ganz und gar
nichts Unpersönliches; und insbesondere giebt seine Moral ein
entschiedenes und entscheidendes Zeugniss dafür ab, wer er ist - das
heisst, in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu
einander gestellt sind.
7.
Wie boshaft Philosophen sein können! Ich kenne nichts Giftigeres als
den Scherz, den sich Epicur gegen Plato und die Platoniker erlaubte: er
nannte sie Dionysiokolakes. Das bedeutet dem Wortlaute nach und im
Vordergrunde "Schmeichler des Dionysios", also Tyrannen-Zubehör
und Speichellecker; zu alledem will es aber noch sagen "das sind Alles
Schauspieler, daran ist nichts Ächtes" (denn Dionysokolax war eine
populäre Bezeichnung des Schauspielers). Und das Letztere ist
eigentlich die Bosheit, welche Epicur gegen Plato abschoss: ihn
verdross die grossartige Manier, das Sich-in-Scene-Setzen, worauf sich
Plato sammt seinen Schülern verstand, - worauf sich Epicur nicht
verstand! er, der alte Schulmeister von Samos, der in seinem Gärtchen
zu Athen versteckt sass und dreihundert Bücher schrieb, wer weiss?
vielleicht aus Wuth und Ehrgeiz gegen Plato? - Es brauchte hundert
Jahre, bis Griechenland dahinter kam, wer dieser Gartengott Epicur
gewesen war. - Kam es dahinter? -
8.
In jeder Philosophie giebt es einen Punkt, wo die "Überzeugung" des
Philosophen auf die Bühne tritt: oder, um es in der Sprache eines alten
Mysteriums zu sagen:
adventavit asinus pulcher et fortissimus.
9.
"Gemäss der Natur" wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche
Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist,
verschwenderisch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne
Absichten und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit,
fruchtbar und öde und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz
selbst als Macht - wie könntet ihr gemäss dieser Indifferenz leben?
Leben - ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist?
Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein,
Different-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ "gemäss der Natur
leben" bedeute im Grunde soviel als "gemäss dem Leben leben" - wie
könntet ihr's denn nicht? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr
selbst seid und sein müsst? - In Wahrheit steht es ganz anders: indem
ihr entzückt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt,
wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und
Selbst-Betrüger! Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure Moral,
euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt, dass sie "der
Stoa gemäss" Natur sei und möchtet alles Dasein nur nach eurem
eignen Bilde dasein machen - als eine ungeheure ewige Verherrlichung
und Verallgemeinerung des Stoicismus! Mit aller eurer Liebe zur
Wahrheit zwingt ihr euch so lange, so beharrlich, so hypnotisch-starr,
die Natur falsch, nämlich stoisch zu sehn, bis ihr sie nicht mehr anders
zu sehen vermögt, - und irgend ein abgründlicher Hochmuth giebt euch
zuletzt noch die Tollhäusler-Hoffnung ein, dass, weil ihr euch selbst zu
tyrannisiren versteht - Stoicismus ist Selbst-Tyrannei -, auch die Natur
sich tyrannisiren lässt: ist denn der Stoiker nicht ein Stück Natur? Aber
dies ist eine alte ewige Geschichte: was sich damals mit den Stoikern
begab, begiebt sich heute noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an
sich selbst zu glauben. Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie
kann nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der
geistigste Wille zur Macht, zur "Schaffung der Welt", zur causa prima.
10.
Der Eifer und die Feinheit, ich möchte sogar sagen: Schlauheit, mit
denen man heute überall in Europa dem Probleme "von der wirklichen
und der scheinbaren Welt" auf den Leib rückt, giebt zu denken und zu
horchen; und wer hier im Hintergrunde nur einen "Willen zur
Wahrheit" und nichts weiter hört, erfreut sich gewiss nicht der
schärfsten Ohren. In einzelnen und seltenen Fällen mag wirklich ein
solcher Wille zur Wahrheit, irgend ein ausschweifender und
abenteuernder Muth, ein Metaphysiker-Ehrgeiz des verlornen Postens
dabei betheiligt sein, der zuletzt eine Handvoll "Gewissheit" immer
noch einem ganzen Wagen voll schöner Möglichkeiten vorzieht; es
mag sogar puritanische Fanatiker des Gewissens geben, welche lieber
noch sich
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