für's
"Volk" - hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes
geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so
gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen
schiessen. Freilich, der europäische Mensch empfindet diese Spannung
als Nothstand; und es ist schon zwei Mal im grossen Stile versucht
worden, den Bogen abzuspannen, einmal durch den Jesuitismus, zum
zweiten Mal durch die demokratische Aufklärung: - als welche mit
Hülfe der Pressfreiheit und des Zeitunglesens es in der That erreichen
dürfte, dass der Geist sich selbst nicht mehr so leicht als "Noth"
empfindet! (Die Deutschen haben das Pulver erfunden - alle Achtung!
aber sie haben es wieder quitt gemacht - sie erfanden die Presse.) Aber
wir, die wir weder Jesuiten, noch Demokraten, noch selbst Deutsche
genug sind, wir guten Europäer und freien, sehr freien Geister - wir
haben sie noch, die ganze Noth des Geistes und die ganze Spannung
seines Bogens! Und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss?
das Ziel.....
Sils-Maria,
Oberengadin im Juni 1885.
Erstes Hauptstück:
Von den Vorurtheilen der Philosophen.
1.
Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen
wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher
mit Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur
Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen schlimmen
fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine lange Geschichte, - und doch
scheint es, dass sie kaum eben angefangen hat? Was Wunder, wenn wir
endlich einmal misstrauisch werden, die Geduld verlieren, uns
ungeduldig umdrehn? Dass wir von dieser Sphinx auch unserseits das
Fragen lernen? Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Was
in uns will eigentlich "zur Wahrheit"? - In der that, wir machten langen
Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens, - bis wir, zuletzt,
vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen blieben. Wir
fragten nach dem Werthe dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit:
warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewissheit? Selbst
Unwissenheit? - Das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor uns
hin, - oder waren wir's, die vor das Problem hin traten? Wer von uns ist
hier Oedipus? Wer Sphinx? Es ist ein Stelldichein, wie es scheint, von
Fragen und Fragezeichen. - Und sollte man's glauben, dass es uns
schliesslich bedünken will, als sei das Problem noch nie bisher gestellt,
- als sei es von uns zum ersten Male gesehn, in's Auge gefasst, gewagt?
Denn es ist ein Wagnis dabei, und vielleicht giebt es kein grösseres.
2.
"Wie könnte Etwas aus seinem Gegensatz entstehn? Zum Beispiel die
Wahrheit aus dem Irrthume? Oder der Wille zur Wahrheit aus dem
Willen zur Täuschung? Oder die selbstlose Handlung aus dem
Eigennutze? Oder das reine sonnenhafte Schauen des Weisen aus der
Begehrlichkeit? Solcherlei Entstehung ist unmöglich; wer davon träumt,
ein Narr, ja Schlimmeres; die Dinge höchsten Werthes müssen einen
anderen, eigenen Ursprung haben, - aus dieser vergänglichen
verführerischen täuschenden geringen Welt, aus diesem Wirrsal von
Wahn und Begierde sind sie unableitbar! Vielmehr im Schoosse des
Sein's, im Unvergänglichen, im verborgenen Gotte, im `Ding an sich` -
da muss ihr Grund liegen, und sonst nirgendswo!" - Diese Art zu
urtheilen macht das typische Vorurtheil aus, an dem sich die
Metaphysiker aller Zeiten wieder erkennen lassen; diese Art von
Werthschätzungen steht im Hintergrunde aller ihrer logischen
Prozeduren; aus diesem ihrem "Glauben" heraus bemühn sie sich um
ihr "Wissen", um Etwas, das feierlich am Ende als "die Wahrheit"
getauft wird. Der Grundglaube der Metaphysiker ist der Glaube an die
Gegensätze der Werthe. Es ist auch den Vorsichtigsten unter ihnen
nicht eingefallen, hier an der Schwelle bereits zu zweifeln, wo es doch
am nöthigsten war: selbst wenn sie sich gelobt hatten "de omnibus
dubitandum". Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze
überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen
Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die
Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur
Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht
noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf,
Frosch-Perspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den
Malern geläufig ist? Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem
Wahrhaftigen, dem Selbstlosen zukommen mag: es wäre möglich, dass
dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der
Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth
zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar noch möglich, dass was
den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin
bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen
auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar
wesensgleich zu sein. Vielleicht! - Aber wer ist Willens, sich um solche
gefährliche Vielleichts zu kümmern! Man muss dazu schon die
Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen abwarten, solcher, die
irgend welchen anderen umgekehrten Geschmack und Hang haben als
die bisherigen, - Philosophen des gefährlichen Vielleicht in jedem
Verstande. - Und allen Ernstes gesprochen: ich sehe solche neue
Philosophen heraufkommen.
3.
Nachdem ich lange genug den
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