Jenseits von Gut und Böse | Page 9

Friedrich Wilhelm Nietzsche
Entdecken, als ein Wiedererkennen, Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen uralten Gesammt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind: - Philosophiren ist insofern eine Art von Atavismus h?chsten Ranges. Die wunderliche Familien-Ahnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophirens erkl?rt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik - ich meine Dank der unbewussten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen - von vornherein Alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern M?glichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt ist) werden mit grosser Wahrscheinlichkeit anders "in die Welt" blicken und auf andern Pfaden zu finden sein, als Indogermanen oder Muselm?nner: der Bann bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann physiologischer Werthurtheile und Rasse-Bedingungen. - So viel zur Zurückweisung von Locke's Oberfl?chlichkeit in Bezug auf die Herkunft der Ideen.
21.
Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine Art logischer Nothzucht und Unnatur: aber der ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken. Das Verlangen nach "Freiheit des Willens", in jenem metaphysischen Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den K?pfen der Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist n?mlich nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr als Münchhausen'schen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren in's Dasein zu ziehn. Gesetzt, Jemand kommt dergestalt hinter die b?urische Einfalt dieses berühmten Begriffs "freier Wille" und streicht ihn aus seinem Kopfe, so bitte ich ihn nunmehr, seine "Aufkl?rung" noch um einen Schritt weiter zu treiben und auch die Umkehrung jenes Unbegriffs "freier Wille" aus seinem Kopfe zu streichen: ich meine den "unfreien Willen", der auf einen Missbrauch von Ursache und Wirkung hinausl?uft. Man soll nicht "Ursache" und "Wirkung" fehlerhaft verdinglichen, wie es die Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt -) gem?ss der herrschenden mechanistischen T?lpelei, welche die Ursache drücken und stossen l?sst, bis sie "Wirkt"; man soll sich der "Ursache", der "Wirkung" eben nur als reiner Begriffe bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verst?ndigung, nicht der Erkl?rung. Im "An-sich" giebt es nichts von "Causal-Verb?nden", von "Nothwendigkeit", von "psychologischer Unfreiheit", da folgt nicht "die Wirkung auf die Ursache", das regiert kein "Gesetz". Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Für-einander, die Relativit?t, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wenn wir diese Zeichen-Welt als "an sich" in die Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, n?mlich mythologisch. Der "unfreie Wille" ist Mythologie: im wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und schwachen Willen. - Es ist fast immer schon ein Symptom davon, wo es bei ihm selber mangelt, wenn ein Denker bereits in aller "Causal-Verknüpfung" und "psychologischer Nothwendigkeit" etwas von Zwang, Noth, Folgen-Müssen, Druck, Unfreiheit herausfühlt: es ist verr?therisch, gerade so zu fühlen, - die Person verr?th sich. Und überhaupt wird, wenn ich recht beobachtet habe, von zwei ganz entgegengesetzten Seiten aus, aber immer auf eine tief pers?nliche Weise die "Unfreiheit des Willens" als Problem gefasst: die Einen wollen um keinen Preis ihre "Verantwortlichkeit", den Glauben an sich, das pers?nliche Anrecht auf ihr Verdienst fahren lassen (die eitlen Rassen geh?ren dahin -); die Anderen wollen umgekehrt nichts verantworten, an nichts schuld sein und verlangen, aus einer innerlichen Selbst-Verachtung heraus, sich selbst irgend wohin abw?lzen zu k?nnen. Diese Letzteren pflegen sich, wenn sie Bücher schreiben, heute der Verbrecher anzunehmen; eine Art von socialistischem Mitleiden ist ihre gef?lligste Verkleidung. Und in der That, der Fatalismus der Willensschwachen versch?nert sich erstaunlich, wenn er sich als "la religion de la souffrance humaine" einzuführen versteht: es ist sein "guter Geschmack".
22.
Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen - aber jene "Gesetzm?ssigkeit der Natur", von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob - - besteht nur Dank eurer Ausdeutung und schlechten "Philologie", - sie ist kein Thatbestand, kein "Text", vielmehr nur eine naiv-humanit?re Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam entgegenkommt! "überall Gleichheit vor dem Gesetz, - die Natur hat es darin nicht anders und nicht besser als wir": ein artiger Hintergedanke, in dem noch einmal die p?belm?nnische Feindschaft gegen alles Bevorrechtete und Selbstherrliche, insgleichen ein zweiter und feinerer Atheismus verkleidet liegt. "Ni dieu, ni ma?tre" - so wollt auch ihr's.- und darum "hoch das Naturgesetz"! - nicht wahr? Aber, wie
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