Jenseits von Gut und Böse | Page 5

Friedrich Wilhelm Nietzsche
zu stehen: indem sie Partei gegen den Schein nehmen und das Wort "perspektivisch" bereits mit Hochmuth aussprechen, indem sie die Glaubwürdigkeit ihres eigenen Leibes ungef?hr so gering anschlagen wie die Glaubwürdigkeit des Augenscheins, welcher sagt "die Erde steht still", und dermaassen anscheinend gut gelaunt den sichersten Besitz aus den H?nden lassen (denn was glaubt man jetzt sicherer als seinen Leib?) wer weiss, ob sie nicht im Grunde Etwas zurückerobern wollen, das man ehemals noch sicherer besessen hat, irgend Etwas vom alten Grundbesitz des Glaubens von Ehedem, vielleicht "die unsterbliche Seele", vielleicht "den alten Gott", kurz, Ideen, auf welchen sich besser, n?mlich kr?ftiger und heiterer leben liess als auf den "modernen Ideen"? Es ist Misstrauen gegen diese modernen Ideen darin, es ist Unglauben an alles Das, was gestern und heute gebaut worden ist; es ist vielleicht ein leichter überdruss und Hohn eingemischt, der das bric-à-brac von Begriffen verschiedenster Abkunft nicht mehr aush?lt, als welches sich heute der sogenannte Positivismus auf den Markt bringt, ein Ekel des verw?hnteren Geschmacks vor der Jahrmarkts-Buntheit und Lappenhaftigkeit aller dieser Wirklichkeits-Philosophaster, an denen nichts neu und ?cht ist als diese Buntheit. Man soll darin, wie mich dünkt, diesen skeptischen Anti-Wirklichen und Erkenntniss-Mikroskopikern von heute Recht geben: ihr Instinkt, welcher sie aus der modernen Wirklichkeit hinwegtreibt, ist unwiderlegt, - was gehen uns ihre rückl?ufigen Schleichwege an! Das Wesentliche an ihnen ist nicht, dass sie "zurück" wollen: sondern, dass sie - weg wollen. Etwas Kraft, Flug, Muth, Künstlerschaft mehr und sie würden hinaus wollen, - und nicht zurück! -
11.
Es scheint mir, dass man jetzt überall bemüht ist, von dem eigentlichen Einflusse, den Kant auf die deutsche Philosophie ausgeübt hat, den Blick abzulenken und namentlich über den Werth, den er sich selbst zugestand, klüglich hinwegzuschlüpfen. Kant war vor Allem und zuerst stolz auf seine Kategorientafel, er sagte mit dieser Tafel in den H?nden: "das ist das Schwerste, was jemals zum Behufe der Metaphysik unternommen werden konnte". - Man verstehe doch dies "werden konnte"! er war stolz darauf, im Menschen ein neues Verm?gen, das Verm?gen zu synthetischen Urteilen a priori, entdeckt zu haben. Gesetzt, dass er sich hierin selbst betrog: aber die Entwicklung und rasche Blüthe der deutschen Philosophie h?ngt an diesem Stolze und an dem Wetteifer aller Jüngeren, wom?glich noch Stolzeres zu entdecken - und jedenfalls "neue Verm?gen"! - Aber besinnen wir uns: es ist an der Zeit. Wie sind synthetische Urtheile a priori m?glich? fragte sich Kant, - und was antwortete er eigentlich? Verm?ge eines Verm?gens: leider aber nicht mit drei Worten, sondern so umst?ndlich, ehrwürdig und mit einem solchen Aufwande von deutschem Tief- und Schn?rkelsinne, dass man die lustige niaiserie allemande überh?rte, welche in einer solchen Antwort steckt. Man war sogar ausser sich über dieses neue Verm?gen, und der Jubel kam auf seine H?he, als Kant auch noch ein moralisches Verm?gen im Menschen hinzu entdeckte: - denn damals waren die Deutschen noch moralisch, und ganz und gar noch nicht "real-politisch". - Es kam der Honigmond der deutschen Philosophie; alle jungen Theologen des Tübinger Stifts giengen alsbald in die Büsche, - alle suchten nach "Verm?gen". Und was fand man nicht Alles - in jener unschuldigen, reichen, noch jugendlichen Zeit des deutschen Geistes, in welche die Romantik, die boshafte Fee, hineinblies, hineinsang, damals, als man "finden" und "erfinden" noch nicht auseinander zu halten wusste! Vor Allem ein Verm?gen für's "übersinnliche": Schelling taufte es die intellektuale Anschauung und kam damit den herzlichsten Gelüsten seiner im Grunde frommgelüsteten Deutschen entgegen. Man kann dieser ganzen übermüthigen und schw?rmerischen Bewegung, welche Jugend war, so kühn sie sich auch in graue und greisenhafte Begriffe verkleidete, gar nicht mehr Unrecht thun, als wenn man sie ernst nimmt und gar etwa mit moralischer Entrüstung behandelt; genug, man wurde ?lter, - der Traum verflog. Es kam eine Zeit, wo man sich die Stirne rieb: man reibt sie sich heute noch. Man hatte getr?umt: voran und zuerst - der alte Kant. "Verm?ge eines Verm?gens" - hatte er gesagt, mindestens gemeint. Aber ist denn das - eine Antwort? Eine Erkl?rung? Oder nicht vielmehr nur eine Wiederholung der Frage? Wie macht doch das Opium schlafen? "Verm?ge eines Verm?gens", n?mlich der virtus dormitiva - antwortet jener Arzt bei Molière,
quia est in eo virtus dormitiva, cujus est natura sensus assoupire.
Aber dergleichen Antworten geh?ren in die Kom?die, und es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage "Wie sind synthetische Urtheile a priori m?glich?" durch eine andre Frage zu ersetzen "warum ist der Glaube an solche Urtheile n?thig?" - n?mlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr geglaubt werden müssen; weshalb sie natürlich noch falsche Urtheile sein k?nnten! Oder, deutlicher geredet und grob und gründlich: synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht "m?glich sein": wir haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche Urtheile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre
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