Jenseits der Schriftkultur, vol 3 | Page 6

Mihai Nadin
gehört
der Interaktion zwischen Vielen.
Wuppertal, im November 1998
Mihai Nadin

Buch III.

Kapitel 1:
Schriftkultur, Sprache und Markt
Märkte sind vermittelnde Maschinen. Heutzutage verstehen wir unter
Maschine allerdings etwas anderes als das, was das industrielle
Maschinenzeitalter darunter verstand--ein Zeitalter, das wir eng mit
dem pragmatischen Handlungsrahmen der Schriftkultur verbunden
sehen. Heute ruft der Begriff Maschine eher Assoziationen an Software,
d. h. Programme, weniger an Hardware, d. h. Dinge, hervor. Insgesamt
umfaßt der Begriff Maschine jedoch Input und Output,

Verarbeitungsprozeß, Kontrollmechanismen und vorhersagbare
Funktionsfähigkeit. Hier beginnen unsere Schwierigkeiten, und zwar
weil uns Märkte bestenfalls als willkürlich, planlos, alles andere als
programmiert erscheinen. Marktvoraussage ist fast ein Oxymoron. Was
für eine Formel Fachleute auch ersinnen--der Markt geriert sich
vollkommen anders.
Eine unglaubliche Zahl von Transaktionen unterwirft die Produkte der
menschlichen Selbstkonstituierung ständig dem Test der Markteffizienz.
Nichts kann sich diesem Test entziehen: Ideen, Waren, Individuen,
Kunst, Sport, Unterhaltung. Wie eine Kaulquappe scheint sich der
Markt selbst in seinen Transaktionen zu ändern. Bisweilen erscheinen
diese uns so esoterisch, daß wir nicht einmal ahnen, was Input und was
Output in dieser Maschine ist. Aber wir alle erwarten, daß sich am
Ende der häßliche Frosch in einen Märchenprinzen verwandelt!
Ohne allzuviel vorwegzunehmen, können wir allerdings sagen, daß
dieser ständig wachsende Mechanismus menschlicher
Selbstevaluierung mit seiner gegenwärtigen Dynamik und im
gegenwärtigen Umfang sich nicht innerhalb des pragmatischen
Rahmens der Schriftkultur hätte entwickeln können. Gewiß können wir
überall auf der Welt in Basaren und Einkaufszentren Marktabläufe
erleben, die wir mit vorausgegangenen pragmatischen
Handlungsrahmen (etwa dem Tauschhandel) in Verbindung bringen.
Als die wirklichen neuen Marktformen in einer quasi reinen Form, also
jene, die für ein Erfahrungsstadium jenseits der Schriftkultur typisch
sind, muß man sich aber die Aktienbörsen und die im Internet
abgewickelten Formen des Warentausches und der Auktionen
vergegenwärtigen. Man muß sich jene unsichtbaren, weit verzweigten,
im Netzwerk sich vollziehenden Transaktionen vorstellen, bei denen
kaum noch zu sagen ist, wer sie in Gang gebracht, diese oder eine
andere fortgeführt oder einen Handel erfolgreich abgeschlossen hat,
bzw. nach welchen Kriterien sich dies vollzog. Diese Transaktionen
führen gleichsam ein Eigenleben, haben eine Eigendynamik.
Der Begriff Vermittlungsmaschine konnotiert auch die Vorstellung von
einem Programm. Manch ein Börsenmakler steht der Entwicklung, in

der viele Vermittlungen durch Entitäten stattfinden, die weder sprechen
noch schreiben können, reserviert gegenüber. Dennoch ist der
Börsenhandel mit Hilfe von Programmen heute eine
Selbstverständlichkeit. Wirtschaftsexperten und Marktforscher, die
gemeinsam Software auf der Grundlage von biologischen Analogien,
der Genetik und dynamischen Systemmodellen entwickeln, belegen
dies nachdrücklich.
Vorbemerkungen
Wenn wir das Verhältnis zwischen Markt und Schriftkultur, bzw.
einem Stadium jenseits der Schriftkultur, näher betrachten, brauchen
wir zunächst einen begrifflichen Rahmen, innerhalb dessen die
spezifische Rolle der Sprache als Vermittlungselement auf diesem
Markt genauer zu fassen ist. Insbesondere müssen wir die Funktionen
betrachten, die die Schriftkultur bei der Diversifizierung von Märkten
und deren Effizienzsteigerung erfüllt hat. Wenn nämlich die Grenzen
der Vermittlungsfähigkeiten der Schriftkultur erreicht sind, wird auch
ihre Effizienz in Frage gestellt. Das geschieht nicht etwa außerhalb des
Marktes, wie einige Wissenschaftler und Politiker uns glauben machen
wollen. Diese Erkenntnis stellt sich auf dem Markt selbst ein, auf dem
im übrigen auch geistige Arbeit einschließlich der Schriftkultur als
Ware gehandelt wird.
Im folgenden sei Markt verstanden als ein Zeichenprozeß, durch den
sich die Menschen in der Welt konstituieren. Insofern können
Transaktionen auf dem Markt als Erweiterungen der menschlichen
biologischen Anlagen gesehen werden: Die Produkte unserer Arbeit
verkörpern die strukturalen Merkmale unserer natürlichen Anlagen und
genügen den Bedürfnissen und Erwartungen, die diesen Merkmalen
entsprechen. Diese Produkte sind Ausdruck unserer Persönlichkeit und
unserer Kultur, sie ergeben sich aus den Erwartungen und Werten, die
für die menschliche Gattung charakteristisch sind, und lassen das
Selbstbewußtsein und die Zukunftsziele dieser Gattung erkennen. Mit
der Sprache, mehr noch mit der Schriftkultur, werden Märkte zu
Auslegungsinstanzen, projektive Instantierungen (d. h.
Materialisierungen) von uns selbst auf dem Weg zu einer neuen

Entwicklungsschwelle, einer neuen Skala. Die Selbstkonstituierung des
Menschen durch Märkte versinnbildlicht die erreichten Ebenen der
produktiven und kreativen Kräfte und die Ziele, die ursprünglich dem
Überleben dienten, später dem Wohlstand und nunmehr der
Komplexität einer globalen Skala gegenwärtiger und zukünftiger
Handlungsformen.
Von den frühesten Formen des Tauschhandels bis zum heutigen Handel
mit Futures und Optionen, von der Geldwirtschaft zur bargeldlosen
Gesellschaft haben Märkte seit jeher den Rahmen für eine immer
höhere Handelseffizienz geschaffen, die oft genug gleichbedeutend mit
Profit ist. Die allgemeinen Erklärungen, zum Beispiel der
Zeichencharakter des Marktes, lassen dennoch einige spezifische
Fragen offen: Wie kommt es z. B., daß ein Gerücht über eine Firma
deren Börsenwert beeinflussen kann, während veröffentlichte
Rechenschaftsberichte nahezu unbeachtet und wirkungslos bleiben? Es
könnte sein, daß die verborgenen Strukturen der im vorliegenden Buch
diskutierten Abläufe mehr zur Erklärung und Vorhersage solcher
Phänomene beitragen können als die vielfältigen mit akademischer
Aura versehenen Theorien.
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Wenn wir den Menschen als ein Zeichen setzendes Wesen (zoon
semeiotikon) verstehen, so will das besagen, daß
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