Jenseits der Schriftkultur, vol 2 | Page 6

Mihai Nadin
Stammesdialekts. Schon diese Beispiele zeigen, da? die praktische Erfahrung, durch die eine Sprache hervorgebracht wird, Teil des allgemeinen pragmatischen Handlungsraums des Menschen ist.
Eine abstrakte Sprache gibt es nicht. Doch trotz der zum Teil erheblichen Unterschiede zwischen den Sprachen ist die Sprachf?higkeit der gemeinsame Nenner der Spezies homo sapiens und ein konstitutives Element der Dynamik dieser Spezies. Wir sind unsere Sprache. Die Feststellung, da? die Sprache dem Leben folgt und es nachbildet, trifft nur die halbe Wahrheit. Denn zugleich bildet sich auch in der Verwendung der Sprache das Leben heraus. Beide beeinflussen sich gegenseitig, letztlich h?ngt der Mensch von jenem pragmatischen Handlungszusammenhang ab, innerhalb dessen er seine biologische Struktur in den praktischen Akt der Selbstdefinition ��bertr?gt.
Die Gr��nde f��r Ver?nderungen im dynamischen Zustand einer Sprache k?nnen wir aus jenen (biologischen, sozialen, kulturellen) Bereichen erschlie?en, die Sprache hervorgebracht haben, die Unterschiede in der Sprachverwendung hervorgerufen und die Anl?sse f��r Ver?nderungen der Lebensumst?nde gegeben haben. Die Notwendigkeit zur Ver?nderung und die Kr?fte, die die Ver?nderung tragen, d��rfen dabei nicht verwechselt werden, obwohl die Trennung zwischen ihnen nicht immer ganz leicht ist. Ver?nderte Arbeitsgewohnheiten und Lebensformen sind ebenso wie die Sprache, die sie ausdr��ckt, an den pragmatischen Rahmen unserer best?ndigen Selbstkonstituierung gebunden. Noch immer verf��gen wir ��ber zehn Finger--eine Strukturgegebenheit des menschlichen K?rpers, die sich in das Dezimalsystem ��bertragen hat--, aber das bin?re Zahlensystem ist heute vermutlich vorherrschend. Das besagt nichts anderes, als da? neue W?rter immer dann gepr?gt werden, wenn die Umst?nde dies erfordern, und der Vergessenheit anheimfallen, wenn sie nicht l?nger ben?tigt werden. Oft erm?glichen neue W?rter und neue Ausdrucksformen erst neue Lebens- und Arbeitsformen; sie bilden dann nicht nur Leben ab, sondern ?ffnen ihm m?gliche Entwicklungswege.
Die Sprache erlaubt dem Menschen erlernbare und kulturell tradierbare Organisationsformen, die ihn vom instinktiven Verhalten des Tieres unterscheiden. ��ber den Ursprung der Sprache ist damit noch nichts gesagt, und nichts dar��ber, warum die instinktive und genetisch vererbte Organisationsform der Tierwelt f��r die sprachlich vermittelte Organisationsform des Menschen weder hinreicht noch dieser gleichwertig ist. Sprache ist mehr als ein blo?er Archivierungsort, sie ist ein Mittel zum Entwurf von Wirklichkeit, ein Instrument zur Hervorbringung neuer Instrumente und deren Evaluierung.
Doch wir m��ssen Sprache in einem noch allgemeineren Rahmen betrachten. Sprachen entwickeln sich wie die Menschen, die sie benutzen. Auch das Aussterben von Sprachen gibt Aufschlu? dar��ber, wie das Leben einer Sprache an das Leben derer gebunden ist, die sie entwickelt und erforderlich gemacht und schlie?lich durch andere Mittel ersetzt haben. Die anthropologische, arch?ologische und genetische Forschung, die sich mit den vorsprachlichen Stadien menschlichen Lebens befa?t, konzentriert sich auf die Gegenst?nde, die man f��r primitive Verrichtungen verwendete. Aus diesem Zusammenhang wissen wir recht zuverl?ssig, da? vor der Entwicklung relativ stabiler und repetitiver Strukturen die Menschen Laute und k?rpersprachliche Formen der Mimik und Gestik einsetzten, und zwar wohl ziemlich genau so, wie wir es heute von Kleinkindern kennen. Aus den fr��hen Stadien der Menschheit ist ein reicher Fundus an Handlungsmustern und Verhaltenscodes ��berliefert, die durchaus eine gewisse Koh?sion aufweisen. Unsere Vorfahren aus grauer Vorzeit entwickelten bereits f��r den Zweck der Nahrungsversorgung und als Reaktion auf Ver?nderungen in den Lebensbedingungen, die sich auf die Ern?hrungs- und Schutzbed��rfnisse auswirkten, bestimmte regelhafte Verhaltensformen.
In vorsprachlicher Zeit fungierten Werkzeuge offenbar auch als Zeichen und Kommunikationsmittel. Viele Wissenschaftler glauben allerdings, da? die Erfindung von Werkzeugen ohne W?rter, also vor der Existenz von Sprache, nicht m?glich war. Ihnen zufolge sind die zur Herstellung von Werkzeugen und die zur Herausbildung des werkzeugmachenden Menschen (homo faber) erforderlichen kognitiven Prozesse sprachlicher Natur. Das Werkzeug als Verl?ngerung des Arms stelle eine Art von Verallgemeinerung dar, die nur durch Sprache m?glich wurde. Es k?nnte aber durchaus sein, da? nat��rliche Formen der "Notation" (Fu?abdr��cke, Bi?eindr��cke und solche Steingebilde, die manche bereits f��r Werkzeuge halten) der Sprache vorausgingen. Solche Notierungen d��rfen auch als Extension der biologischen Gegebenheiten des Menschen gelten und entsprechen einem kognitiven Entwicklungsstand und einer Existenzskala, die auf die Herausbildung von Sprache hinf��hrte.
Die vorliegenden Erkenntnisse ��ber die Entstehung von Schriftsystemen lassen nachvollziehen, wie sich lautliche und gestische Muster zu graphischen Darstellungen entwickelt haben, und zugleich auch, wie mit dem Entstehen der Schrift neue Erfahrungshorizonte und eine breitere Skala menschlicher T?tigkeit erschlossen wurden. Entsprechende R��ckschl��sse k?nnen wir auch aus aussterbenden Sprachen ziehen, die weniger wegen ihrer Grammatik oder Phonetik interessant sind als wegen des erkennbaren Zusammenhangs, der zwischen ihnen und einer entsprechenden Erfahrungswelt, einer zugrundeliegenden biologischen Struktur und der Skala der menschlichen Erfahrungen und ihrer Ver?nderungen besteht.
Der hier getroffenen Unterscheidung zwischen vorsprachlicher Notation, Sprachentstehung, Entstehung von Schriftsystemen und aussterbenden Sprachen entspricht ein Unterschied zwischen Arten und Typen menschlicher Ausdrucksweise, Interaktion und Interpretation von allem, was die Menschen zur Anerkennung der sie umgebenden Wirklichkeit heranziehen. Auf sich oder andere aufmerksam zu machen erfordert noch keine Sprache. Hierf��r reichen Laute, Gesten k?nnen das Signal verst?rken. In jedem artikulierten Laut und in jeder Geste projiziert sich der Mensch auf irgendeine Weise. In H?he, Timbre, Umfang und Dauer eines
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