immer mit negativen Konnotationen belastet--nicht schriftkulturell gebildet zu sein, gilt als sch?dlich oder peinlich. Wir k?nnen also, ohne unsere Werte und Denkweisen genauer zu verstehen, auch nicht nachvollziehen, wie sich der Weg in die "Schriftkulturlosigkeit" als Fortschritt begreifen l??t. Viele Menschen empfinden sich als Teil einer post-schriftkulturellen Gesellschaft, m?chten sich aber nicht als ungebildet bezeichnen lassen. [Im übrigen ist hier mit Blick auf die deutsche Ausgabe ein kl?rendes Wort zur Begrifflichkeit angezeigt. Im Englischen ist zur Benennung der hier verhandelten Problemstellungen das Begriffspaar literacy und illiteracy (bzw. literate/illiterate) gebr?uchlich, für das es im Deutschen kein ?quivalent gibt. literacy/literate kann deutsch "Schriftkultur/schriftkulturell", "Schriftlichkeit (Schrift)/schriftlich", "Bildung/gebildet", bzw. illiteracy neben "Unbildung" auch noch "Analphabetismus" bedeuten. Auch "Literalit?t/Illiteralit?t" ist keineswegs deckungsgleich. Je nach Kontext bezeichnet der englische Begriff einen dieser Aspekte oder den gesamten Bedeutungsumfang. In der deutschen Fassung mu?te daher aus Gründen der Pr?zisierung auf Umschreibungen oder Wortkombinationen zurückgegriffen werden. Ein ?hnliches Problem stellt sich bei der übersetzung für den englischen Begriff mind, an dessen Bedeutungsumfang man sich je nach Kontext mit "Bewu?tsein" oder "Geist" ann?hern kann, der nach Auffassung des Verfassers aber als deutsch "Mind" wiedergegeben werden sollte. Anm. d. übers.]
Mit der Bezeichnung Jenseits der Schriftkultur beziehe ich mich auf ein Entwicklungsstadium, in dem die Grundstruktur unserer Lebenspraxis nicht mehr vornehmlich durch schriftkulturelle Merkmale gekennzeichnet ist. Darüber hinaus bezeichne ich damit einen Zustand, in dem nicht mehr eine einzige Sprache und Schriftkultur vorherrscht und allen Bereichen der Lebenspraxis ihre Strukturen und Regeln aufzwingt, so da? neue Formen der Selbstkonstituierung verhindert werden. Im übrigen geht es mir nicht um einen provokativen Begriff, sondern darum, da? wir unseren Blick zukunftsorientiert auf die gegenw?rtigen Probleme richten und uns nicht aus Bequemlichkeit mit dem Gewohnten zufrieden geben.
Das neue Stadium kennt viele Sprachen und Schriftlichkeiten mit jeweils eigenen Merkmalen und Funktionsregeln. Bei diesen partiellen Sprachen kann es sich um andere Ausdrucksformen handeln, um visuelle oder um syn?sthetische Kommunikationsmittel. Andere beruhen auf Zahlen und damit einem Notationssystem, das mit Schriftlichkeit nichts zu tun hat. Jenseits der Schriftkultur etablieren sich nichtsprachliche Denk- und Arbeitsformen, die z. B. Mathematiker verschiedener L?nder und Sprachen auf der Grundlage ihrer Formeln zusammenarbeiten lassen. Visuelle, digital verarbeitete Mittel erh?hen die Effizienz. Und selbst in der heutigen eher primitiven Ausstattung verk?rpert das Internet die Richtungen und M?glichkeiten dieser Zivilisation. Das bringt uns zurück zur Frage, wie und warum Schriftkultur entstand, n?mlich durch pragmatische Umst?nde, die nach h?herer Effizienz hinsichtlich der verfolgten Ziele verlangten: bei der Auflistung von Handelsgütern oder bei Anweisungen für bestimmte T?tigkeiten; Beschreibungen von Orten und Wegen; Theater, Dichtung, Philosophie; die Aufzeichnung und Verbreitung von Geschichte und Ideen, von Mythen, Romanen, Gesetzen und Gebr?uchen. Einige dieser Bedürfnisse haben sich erübrigt. Aber da? die neuen digitalen Methoden und Technologien eine leistungsf?hige Alternative zur Schriftkultur darstellen, kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden.
Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, war ich davon überzeugt, da? wir für die dem Menschen eigene Tendenz zu immer h?herer Effizienz--genauer: für unseren Drang, immer mehr für immer weniger Geld zu bekommen--einen Preis bezahlen müssen: die Aufgabe der Schriftkultur und der an sie geknüpften Werte wie Tradition, Bücher, Kunst, Familie, Philosophie, Ethik und vieles andere. Wir sehen uns schnelleren Lebensrhythmen und kürzeren Interaktionszeiten ausgesetzt. Zahlreiche und vielf?ltige Vermittlungselemente beeinflussen unser Verst?ndnis von dem, was wir tun. Fragmentarisierung und gleichzeitige Vernetzung der Welt, neue Synchronisierungstechnologien und die Dynamik von Lebensformen oder künstlich geschaffenen Gebilden entziehen sich schriftkulturellem Zugriff und konstituieren einen neuen Rahmen für unsere Lebenspraxis. Besonders deutlich wird das, wenn wir die grundlegenden Merkmale der Schriftlichkeit mit denen der neuen Zeichensysteme vergleichen, die die Schriftlichkeit erg?nzen oder ersetzen. Sprache ist sequentiell, zentralistisch, linear und entspricht dem linearen Wachstumsstadium der Menschheit. Mit den ebenfalls linear anwachsenden Mitteln des Lebensunterhalts und der Produktion, die für das Leben und die Fortentwicklung der Menschheit notwendig sind, hat dieses Stadium sein Potential realisiert und ersch?pft. Das neue Stadium ist gekennzeichnet durch verteilte, nichtsequentielle T?tigkeit und nichtlineare Beziehungen. Es spiegelt das exponentielle Wachstum der Menschheit (hinsichtlich der Bev?lkerungszahlen, der Erwartungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte) und setzt auf andere, im wesentlichen kognitive Ressourcen. Dieses System weist eine andere, eine v?llig neue Skala auf, die unter anderem durch Globalit?t und h?here Komplexit?tsebenen gekennzeichnet ist. Aus diesen v?llig neuen Formen der Lebenspraxis erwachsen die Alternativen, die unser Leben, unsere Arbeit und unsere sozialen Beziehungen ver?ndern werden.
Die neuen Mittel sind nicht mehr so universell wie die Sprache, er?ffnen aber aus den hier zun?chst angedeuteten Gründen ein exponentielles Wachstum. Solange sich der Mensch in kleinen Einheiten organisiert hatte (in St?mmen, kleinen Siedlungsgemeinschaften, St?dten und Grafschaften), nahm die Sprache eine zentrale Stellung ein. Sie erfüllte in diesen Organisationsformen vereinheitlichende Funktionen. Mittlerweile haben wir eine Entwicklungsphase erreicht, die von weltweiten Abh?ngigkeitsverh?ltnissen gekennzeichnet ist. Daraus erwachsen viele lokale Sprachen und Schriftlichkeiten mit nur relativer, begrenzter Bedeutung, die aber in ihrer Gesamtheit unsere Praxis optimieren. Aus Bürgern, Citizens, werden vernetzte Bürger, Netizens, und diese Identit?t bindet
Continue reading on your phone by scaning this QR Code
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the
Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.