Heimatlos | Page 8

Johanna Spyri
sagte er leise: ?Base, kommt!?
Diese wollte ihn eben tüchtig anfahren, als ihre Blicke auf sein Gesicht fielen: es war v?llig ohne Farbe, Wangen und Lippen wei? wie ein Tuch, und aus den Augen schaute er so schwarz, da? ihn die Base fast fürchtete.
?Was hast du?? fragte sie hastig und folgte ihm unwillkürlich.
Er ging leise das Treppchen hinauf und in die Kammer hinein. Da lag der Vater mit starren Augen auf seinem Bett; er war tot.
?Ach, du mein Gott?, schrie die Base und lief mit L?rm zur Tür hinaus, die auf der anderen Seite auf den Gang führte, die Treppe hinunter und gleich hinüber in die Stube hinein und rief, der Nachbar und die Gro?mutter sollten herüberkommen, und von da lief sie zum Lehrer und zum Gemeindevorsteher.
So kam eins ums andere und trat in die stille Kammer hinein, bis sie voll von Menschen war, denn einer h?rte drau?en vom anderen, was geschehen sei. Und mitten in dem Gewimmel und den vielen klaghaften Worten von all' den Nachbarn stand Rico an dem Bette, lautlos und unbeweglich, und schaute den Vater an. -- Die ganze Woche durch kamen t?glich noch Leute ins Haus, die den Vater ansehen und von der Base h?ren wollten, wie alles zugegangen sei, so da? es Rico ein Mal über das andere erz?hlen h?rte: Sein Vater hatte drunten im St. Gallischen an einer Eisenbahn Arbeit gehabt. Beim Steinsprengen hatte er eine tiefe Wunde in den Kopf bekommen, und da er nun doch nicht mehr arbeiten konnte, wollte er heimgehen, um sich zu pflegen, bis es besser würde. Aber die lange Reise, teils zu Fu?, teils auf offenen Fuhrwagen, hatte er nicht ertragen k?nnen, war am Sonntag gegen Abend daheim angelangt und hatte sich auf sein Bett gelegt, um nicht wieder aufzustehen; ohne da? ihn jemand gesehen hatte, war er verschieden; denn Rico hatte ihn schon starr ausgestreckt auf dem Bette gefunden. Am Sonntag darauf wurde der Mann begraben. Rico war der einzige Leidtragende, der dem Sarge folgte, einige gute Nachbarn hatten sich noch angeschlossen; so ging der Zug hinüber nach Sils. Dort h?rte Rico, wie der Herr Pfarrer in der Kirche laut ablas: ?Der Verstorbene hie? Enrico Trevillo und war gebürtig aus Peschiera am Gardasee.?
Da war es Rico, als h?rte er etwas, das er ganz gut gewu?t, aber gar nicht mehr hatte zusammenfinden k?nnen. Immer hatte er auch den See vor sich gesehen, wenn er mit dem Vater gesungen hatte:
#?Una sera In Peschiera.?#
Aber er hatte nicht gewu?t, warum. Leise mu?te er die Namen wiederholen, eine Menge alter Lieder stiegen damit vor seinen Augen auf.
Als er allein zurückgewandert kam, sah er die Gro?mutter auf dem Holzstumpf sitzen und neben ihr das Stineli. Sie winkte ihn zu sich. Dann steckte sie ihm ein Stück Birnbrot in die Tasche, wie sie vorher dem Stineli getan hatte, und sagte, nun sollten sie spazieren gehen, an dem Tage müsse Rico nicht allein sein. Da wanderten die Kinder zusammen in den hellen Abend hinaus. Die Gro?mutter blieb auf ihrem Holze sitzen und schaute mitleidig dem schwarzen Büblein nach, bis sie nichts mehr von den Kindern sehen konnte. Dann sagte sie leise für sich:
?Doch was Er tut und l??t geschehn, Das nimmt ein gutes End'!?

Sechstes Kapitel.
Ricos Mutter.
über den Weg von Sils her kam an einem Stab der Lehrer gegangen. Er hatte an dem Begr?bnis teilgenommen. Er hustete und keuchte, und als er nun bei der Gro?mutter angekommen war und einen ?Guten Abend? geboten hatte, setzte er hinzu: ?Wenn es Euch recht ist, Nachbarin, so sitze ich einen Augenblick neben Euch, denn ich habe es stark in dem Hals und auf der Brust; aber was kann unsereins sagen mit bald siebzig Jahren, wenn man solche begr?bt, wie den heute. Er war noch nicht fünfunddrei?ig und ein Mann wie ein Baum.?
Der Lehrer hatte sich neben die Gro?mutter niedergesetzt.
?Es gibt mir auch zu denken?, sagte diese, ?da? ich, eine Alte, Fünfundsiebzigj?hrige, übrig bleibe und da und dort ein Junges fort mu?, von dem man denkt, es w?re noch n?tig gewesen.?
?Die Alten werden auch noch zu etwas gut sein. Wo w?re sonst ein Beispiel für die Jungen?? bemerkte der Lehrer. ?Aber was meint Ihr, Nachbarin, was soll nun aus dem Büblein werden da drüben??
?Ja, was soll aus dem Büblein werden?? wiederholte die Gro?mutter; ?ich frage auch so, und wenn ich nur auf die Menschen sehen wollte, so wü?te ich keine Antwort. Aber es ist noch ein Vater im Himmel, der die verlassenen Kinder sieht. Er wird auch einen Weg für das Büblein finden.?
?Sagt mir einmal, Nachbarin: wie ging es zu, da? der Italiener die Tochter von Eurer Nachbarin da drüben zur Frau bekam? Man wei? doch nie, woher solche fremde Menschen kommen und was mit ihnen ist.?
?Es ging eben, wie es geht, Nachbar. Ihr wi?t ja, meine alte Bekannte, die Frau Anne-Dete, hatte alle ihre Kinder verloren und auch den
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