Heimatlos | Page 4

Johanna Spyri
der anderen Seite daher. Sie traten alle
miteinander ein, und bald nachher kam auch der Lehrer. Der war ein
alter Mann mit dünnen, grauen Haaren, denn er war schon undenklich
lang Lehrer gewesen, so daß ihm darüber die Haare grau geworden und
ausgefallen waren. Es ging nun an ein strenges Buchstabieren und
Syllabieren, dann kam das Einmaleins an die Reihe und zuletzt kam der
Gesang. Da holte der Lehrer seine alte Geige hervor und stimmte sie,
und nun ging es an und alle sangen aus voller Kehle:
»Ihr Schäflein hinunter Von sonniger Höh'«,

und der Lehrer geigte dazu.
Nun schaute aber der Rico so gespannt auf die Geige und des Lehrers
Finger, wie dieser die Saiten griff, daß Rico darüber ganz das Singen
vergaß und keinen Ton mehr von sich gab. Jetzt fiel mit einem Male
die ganze Sängerherde einen halben Ton hinunter, da wurde die Geige
auch unsicher und fiel nach, und die Sänger fielen noch tiefer, und man
kann gar nicht wissen, wie tief hinunter alles miteinander gefallen wäre,
-- aber jetzt warf der Lehrer die Geige auf den Tisch und rief erzürnt:
»Was ist das für ein Gesang! Ihr unvernünftigen Schreier! Wenn ich
doch wissen könnte, wer mir so falsch singt und einen ganzen Gesang
verdirbt!«
Da sagte ein kleiner Bube, der neben Rico saß: »Ich weiß schon,
warum es so gegangen ist; allemal geht es so, wenn der Rico aufhört zu
singen.«
Dem Lehrer war es selbst nicht so ganz unbekannt, daß die Geige am
sichersten ging, wenn Rico fest mitsang.
»Rico, Rico, was muß ich hören«, sagte er ernsthaft, zu diesem
gewandt. »Du bist sonst ein ordentliches Büblein, aber Unachtsamkeit
ist ein großer Fehler, das hast du jetzt gesehen. Ein einziger
unachtsamer Schüler kann einen ganzen Gesang verderben. Jetzt
wollen wir noch einmal anfangen, und daß du aufpassest, Rico!«
Nun setzte Rico mit fester, klarer Stimme ein, und die Geige folgte
nach, und alle Kinder sangen aus allen Kräften mit, so daß es ganz
herrlich anzuhören war bis zum Schluß. Da war der Lehrer sehr
zufrieden und rieb sich die Hände und tat noch ein paar feste Striche
auf der Geige und sagte vergnüglich: »Es ist auch ein Instrument
danach.«

Drittes Kapitel.
Des alten Schullehrers Geige.

Vor der Tür hatten sich Stineli und Rico bald aus dem Rudel
herausgemacht und zogen zusammen ihren Weg.
»Hast du vor lauter Staunen nicht mehr mitgesungen, Rico?« fragte
jetzt Stineli. »Ist dir etwa auf einmal der See in den Sinn gekommen?«
»Nein, etwas anderes«, sagte Rico; »ich weiß jetzt, wie man spielt: 'Ihr
Schäflein hinunter'. Wenn ich nur eine Geige hätte!«
Der Wunsch mußte Rico schwer auf dem Herzen liegen, denn er kam
mit einem tiefen Seufzer heraus. Stineli war gleich ganz voller
Teilnahme und unternehmender Gedanken.
»Wir wollen eine kaufen zusammen«, rief es plötzlich in großer Freude
über die Hilfe, die ihm in den Sinn gekommen war. »Ich habe ganz
viele Blutzger von der Großmutter, etwa zwölf; wie viele hast du?«
»Gar keinen«, sagte Rico traurig; »der Vater hat mir ein paar gegeben,
ehe er fortging. Aber die Base hat gesagt, ich mache nur unnützes Zeug
damit, und hat sie genommen und ganz hoch hinauf in den Kasten
gelegt; man kann sie nicht mehr erlangen.«
Aber Stineli ließ sich nicht so bald entmutigen. »Vielleicht haben wir
doch genug Geld, und die Großmutter gibt mir schon noch ein wenig«,
sagte es tröstend; »weißt du, Rico, eine Geige kostet nicht so viel; es ist
nur altes Holz und vier Saiten darüber gespannt, das kostet nicht viel.
Du mußt nur morgen den Lehrer fragen, was eine Geige kostet, und
nachher suchen wir eine.«
So blieb es ausgemacht, und Stineli dachte, es wolle daheim tun, was es
nur könne, und ganz früh aufstehen und das Feuer anmachen, eh' nur
die Mutter auf sei; denn wenn es so immerfort etwas tat von früh bis
spät, steckte ihm gewöhnlich die Großmutter einen Blutzger in den
Sack.
Am folgenden Morgen, als die Schule aus war, ging Stineli allein
hinaus und an der Ecke vom Schulhaus stand es still hinter dem
Holzhaufen und wartete auf den Rico, der jetzt den Lehrer fragen sollte

wegen der Geige. Er kam lange nicht heraus, und Stineli guckte immer
wieder mit Ungeduld hinter dem Holze hervor, aber es waren nur die
anderen Buben, die noch da und dort herumstanden. Aber jetzt --
richtig, Rico kam um den Holzhaufen herum. Da war er.
»Was hat er gesagt, was kostet sie?« rief Stineli mit angehaltenem
Atem vor Erwartung.
»Ich habe nicht fragen mögen«, antwortete Rico verzagt.
»O, wie schade!« sagte Stineli und stand ganz verblüfft da, aber nicht
lange. »Es ist gleich, Rico«, sagte es wieder fröhlich und nahm ihn bei
der Hand zum Heimgehen, »du kannst nur morgen fragen. Ich habe
auch schon wieder einen Blutzger bekommen heute früh von der
Großmutter, weil
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