Hamburgische Dramaturgie | Page 2

Gotthold Ephraim Lessing
entfernt: und ich fürchte
sehr, daß die deutsche mehr dieses als jenes ist.
Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht
wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der
Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch
immer geschwinder, als der ohne Ziel herumirret.
Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen
aufzuführenden Stücken halten und jeden Schritt begleiten, den die
Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird. Die
Wahl der Stücke ist keine Kleinigkeit: aber Wahl setzt Menge voraus;
und wenn nicht immer Meisterstücke aufgeführet werden sollten, so
sieht man wohl, woran die Schuld liegt. Indes ist es gut, wenn das
Mittelmäßige für nichts mehr ausgegeben wird, als es ist; und der
unbefriedigte Zuschauer wenigstens daran urteilen lernt. Einem
Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack
beibringen will, braucht man es nur auseinanderzusetzen, warum ihm
etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmäßige Stücke müssen auch

schon darum beibehalten werden, weil sie gewisse vorzügliche Rollen
haben, in welchen der oder jener Akteur seine ganze Stärke zeigen
kann. So verwirft man nicht gleich eine musikalische Komposition,
weil der Text dazu elend ist.
Die größte Feinheit eines dramatischen Richters zeiget sich darin, wenn
er in jedem Falle des Vergnügens und Mißvergnügens unfehlbar zu
unterscheiden weiß, was und wieviel davon auf die Rechnung des
Dichters, oder des Schauspielers, zu setzen sei. Den einen um etwas
tadeln, was der andere versehen hat, heißt beide verderben. Jenem wird
der Mut benommen, und dieser wird sicher gemacht.
Besonders darf es der Schauspieler verlangen, daß man hierin die
größte Strenge und Unparteilichkeit beobachte. Die Rechtfertigung des
Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da und
kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst
des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und
Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die
heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das
eine oder das andere einen lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat.
Eine schöne Figur, eine bezaubernde Miene, ein sprechendes Auge, ein
reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge,
die sich nicht wohl mit Worten ausdrücken lassen. Doch sind es auch
weder die einzigen noch größten Vollkommenheiten des Schauspielers.
Schätzbare Gaben der Natur, zu seinem Berufe sehr nötig, aber noch
lange nicht seinen Beruf erfüllend! Er muß überall mit dem Dichter
denken; er muß da, wo dem Dichter etwas Menschliches widerfahren
ist, für ihn denken.
Man hat allen Grund, häufige Beispiele hiervon sich von unsern
Schauspielern zu versprechen.--Doch ich will die Erwartung des
Publikums nicht höher stimmen. Beide schaden sich selbst: der zu viel
verspricht, und der zu viel erwartet.
Heute geschieht die Eröffnung der Bühne. Sie wird viel entscheiden;
sie muß aber nicht alles entscheiden sollen. In den ersten Tagen werden
sich die Urteile ziemlich durchkreuzen. Es würde Mühe kosten, ein

ruhiges Gehör zu erlangen.--Das erste Blatt dieser Schrift soll daher
nicht eher als mit dem Anfange des künftigen Monats erscheinen.
Hamburg, den 22. April 1767.
----Fußnote
[1] "Werke", dritter Teil, S. 252."
----Fußnote

Erster Band
Erstes Stück Den 1. Mai 1767
Das Theater ist den 22. vorigen Monats mit dem Trauerspiele: "Olint
und Sophronia" glücklich eröffnet worden. Ohne Zweifel wollte man
gern mit einem deutschen Originale anfangen, welches hier noch den
Reiz der Neuheit habe. Der innere Wert dieses Stückes konnte auf eine
solche Ehre keinen Anspruch machen. Die Wahl wäre zu tadeln, wenn
sich zeigen ließe, daß man eine viel bessere hätte treffen können.
"Olint und Sophronia" ist das Werk eines jungen Dichters, und sein
unvollendet hinterlassenes Werk. Cronegk starb allerdings für unsere
Bühne zu früh; aber eigentlich gründet sich sein Ruhm mehr auf das
was er, nach dem Urteile seiner Freunde, für dieselbe noch hätte leisten
können, als was er wirklich geleistet hat. Und welcher dramatische
Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, hätte in seinem
sechsundzwanzigsten Jahre sterben können, ohne die Kritik über seine
wahren Talente nicht ebenso zweifelhaft zu lassen?
Der Stoff ist die bekannte Episode beim Tasso. Eine kleine rührende
Erzählung in ein rührendes Drama umzuschaffen, ist so leicht nicht.
Zwar kostet es wenig Mühe, neue Verwickelungen zu erdenken und
einzelne Empfindungen in Szenen auszudehnen. Aber zu verhüten
wissen, daß diese neue Verwickelungen weder das Interesse schwächen,
noch der Wahrscheinlichkeit Eintrag tun; sich aus dem Gesichtspunkte

des Erzählers in den wahren Standort einer jeden Person versetzen
können; die Leidenschaften nicht beschreiben, sondern vor den Augen
des Zuschauers entstehen und ohne Sprung in einer so illusorischen
Stetigkeit wachsen zu lassen, daß dieser sympathisieren muß, er mag
wollen oder nicht: das ist es, was dazu nötig ist; was das Genie, ohne es
zu wissen, ohne es sich langweilig zu erklären, tut, und was der bloß
witzige Kopf nachzumachen, vergebens sich martert.
Tasso scheinet in seinem Olint und Sophronia den Virgil in seinem
Nisus
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