Leben verzichtet, wenn
man auf den Krieg verzichtet... In vielen Fällen freilich ist der "Frieden
der Seele" bloss ein Missverständniss, - etwas Anderes, das sich nur
nicht ehrlicher zu benennen weiss. Ohne Umschweif und Vorurtheil ein
paar Fälle. "Frieden der Seele" kann zum Beispiel die sanfte
Ausstrahlung einer reichen Animalität in's Moralische (oder Religiöse)
sein. Oder der Anfang der Müdigkeit, der erste Schatten, den der
Abend, jede Art Abend wirft. Oder ein Zeichen davon, dass die Luft
feucht ist, dass Südwinde herankommen. Oder die Dankbarkeit wider
Wissen für eine glückliche Verdauung ("Menschenliebe" mitunter
genannt). Oder das Stille-werden des Genesenden, dem alle Dinge neu
schmecken und der wartet... Oder der Zustand, der einer starken
Befriedigung unsrer herrschenden Leidenschaft folgt, das Wohlgefühl
einer seltnen Sattheit. Oder die Altersschwäche unsres Willens, unsrer
Begehrungen, unsrer Laster. Oder die Faulheit, von der Eitelkeit
überredet, sich moralisch aufzuputzen. Oder der Eintritt einer
Gewissheit, selbst furchtbaren Gewissheit, nach einer langen Spannung
und Marterung durch die Ungewissheit. Oder der Ausdruck der Reife
und Meisterschaft mitten im Thun, Schaffen, Wirken, Wollen, das
ruhige Athmen, die erreichte "Freiheit des Willens"...
Götzen-Dämmerung: wer weiss? vielleicht auch nur eine Art "Frieden
der Seele"...
4.
- Ich bringe ein Princip in Formel. Jeder Naturalismus in der Moral, das
heisst jede gesunde Moral ist von einem Instinkte des Lebens
beherrscht, - irgend ein Gebot des Lebens wird mit einem bestimmten
Kanon von "Soll" und "Soll nicht" erfüllt, irgend eine Hemmung und
Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird damit bei Seite geschafft.
Die widernatürliche Moral, das heisst fast jede Moral, die bisher gelehrt,
verehrt und gepredigt worden ist, wendet sich umgekehrt gerade gegen
die Instinkte des Lebens, - sie ist eine bald heimliche, bald laute und
freche Verurtheilung dieser Instinkte. Indem sie sagt "Gott sieht das
Herz an", sagt sie Nein zu den untersten und obersten Begehrungen des
Lebens und nimmt Gott als Feind des Lebens... Der Heilige, an dem
Gott sein Wohlgefallen hat, ist der ideale Castrat... Das Leben ist zu
Ende, wo das "Reich Gottes" anfängt...
5.
Gesetzt, dass man das Frevelhafte einer solchen Auflehnung gegen das
Leben begriffen hat, wie sie in der christlichen Moral beinahe
sakrosankt geworden ist, so hat man damit, zum Glück, auch Etwas
Andres begriffen: das Nutzlose, Scheinbare, Absurde, Lügnerische
einer solchen Auflehnung. Eine Verurtheilung des Lebens von Seiten
des Lebenden bleibt zuletzt doch nur das Symptom einer bestimmten
Art von Leben: die Frage, ob mit Recht, ob mit Unrecht, ist gar nicht
damit aufgeworfen. Man müsste eine Stellung ausserhalb des Lebens
haben, und andrerseits es so gut kennen, wie Einer, wie Viele, wie Alle,
die es gelebt haben, um das Problem vom Werth des Lebens überhaupt
anrühren zu dürfen: Gründe genug, um zu begreifen, dass das Problem
ein für uns unzugängliches Problem ist. Wenn wir von Werthen reden,
reden wir unter der Inspiration, unter der Optik des Lebens: das Leben
selbst zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst werthet durch
uns, wenn wir Werthe ansetzen... Daraus folgt, dass auch jene
Widernatur von Moral, welche Gott als Gegenbegriff und
Verurtheilung des Lebens fasst, nur ein Werthurtheil des Lebens ist -
welches Lebens? Welcher Art von Leben? - Aber ich gab schon die
Antwort: des niedergehenden, des geschwächten, des müden, des
verurtheilten Lebens. Moral, wie sie bisher verstanden worden ist - wie
sie zuletzt noch von Schopenhauer formulirt wurde als "Verneinung
des Willens zum Leben" - ist der décadence-Instinkt selbst, der aus sich
einen Imperativ macht: sie sagt: "geh zu Grunde" sie ist das Urtheil
Verurtheilter...
6.
Erwägen wir endlich noch, welche Naivetät es überhaupt ist, zu sagen
"so und so sollte der Mensch sein!" Die Wirklichkeit zeigt uns einen
entzückenden Reichthum der Typen, die Üppigkeit eines
verschwenderischen Formenspiels und -Wechsels: und irgend ein
armseliger Eckensteher von Moralist sagt dazu: "nein! der Mensch
sollte anders sein"?... Er weiss es sogar, wie er sein sollte, dieser
Schlucker und Mucker, er malt sich an die Wand und sagt dazu "ecce
homo!"... Aber selbst wenn der Moralist sich bloss an den Einzelnen
wendet und zu ihm sagt: "so und so solltest du sein!" hört er nicht auf,
sich lächerlich zu machen. Der Einzelne ist ein Stück fatum, von Vorne
und von Hinten, ein Gesetz mehr, eine Nothwendigkeit mehr für Alles,
was kommt und sein wird. Zu ihm sagen "ändere dich" heisst verlangen,
dass Alles sich ändert, sogar rückwärts noch... Und wirklich, es gab
consequente Moralisten, sie wollten den Menschen anders, nämlich
tugendhaft, sie wollten ihn nach ihrem Bilde, nämlich als Mucker: dazu
verneinten sie die Welt! Keine kleine Tollheit! Keine bescheidne Art
der Unbescheidenheit!... Die Moral, insofern sie verurtheilt, an sich,
nicht aus Hinsichten, Rücksichten, Absichten des Lebens, ist ein
spezifischer Irrthum, mit dem man kein Mitleiden haben soll, eine
Degenerirten-Idiosynkrasie, die unsäglich viel Schaden gestiftet hat!...
Wir Anderen, wir Immoralisten, haben umgekehrt unser Herz weit
gemacht für alle Art Verstehn, Begreifen, Gutheissen.
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