Ein Landarzt | Page 2

Franz Kafka
in
des Mädchens Wange. »Du Vieh,« schreie ich wütend, »willst du die
Peitsche?«, besinne mich aber gleich, daß es ein Fremder ist; daß ich

nicht weiß, woher er kommt, und daß er mir freiwillig aushilft, wo alle
andern versagen. Als wisse er von meinen Gedanken, nimmt er meine
Drohung nicht übel, sondern wendet sich nur einmal, immer mit den
Pferden beschäftigt, nach mir um. »Steigt ein,« sagt er dann, und
tatsächlich: alles ist bereit. Mit so schönem Gespann, das merke ich,
bin ich noch nie gefahren und ich steige fröhlich ein. »Kutschieren
werde aber ich, du kennst nicht den Weg,« sage ich. »Gewiß,« sagt er,
»ich fahre gar nicht mit, ich bleibe bei Rosa.« »Nein,« schreit Rosa und
läuft im richtigen Vorgefühl der Unabwendbarkeit ihres Schicksals ins
Haus; ich höre die Türkette klirren, die sie vorlegt; ich höre das Schloß
einspringen; ich sehe, wie sie überdies im Flur und weiterjagend durch
die Zimmer alle Lichter verlöscht, um sich unauffindbar zu machen.
»Du fährst mit,« sage ich zu dem Knecht, »oder ich verzichte auf die
Fahrt, so dringend sie auch ist. Es fällt mir nicht ein, dir für die Fahrt
das Mädchen als Kaufpreis hinzugeben.« »Munter!« sagt er; klatscht in
die Hände; der Wagen wird fortgerissen, wie Holz in die Strömung;
noch höre ich, wie die Tür meines Hauses unter dem Ansturm des
Knechtes birst und splittert, dann sind mir Augen und Ohren von einem
zu allen Sinnen gleichmäßig dringenden Sausen erfüllt. Aber auch das
nur einen Augenblick, denn, als öffne sich unmittelbar vor meinem
Hoftor der Hof meines Kranken, bin ich schon dort; ruhig stehen die
Pferde; der Schneefall hat aufgehört; Mondlicht ringsum; die Eltern des
Kranken eilen aus dem Haus; seine Schwester hinter ihnen; man hebt
mich fast aus dem Wagen; den verwirrten Reden entnehme ich nichts;
im Krankenzimmer ist die Luft kaum atembar; der vernachlässigte
Herdofen raucht; ich werde das Fenster aufstoßen; zuerst aber will ich
den Kranken sehen. Mager, ohne Fieber, nicht kalt, nicht warm, mit
leeren Augen, ohne Hemd hebt sich der Junge unter dem Federbett,
hängt sich an meinen Hals, flüstert mir ins Ohr: »Doktor, laß mich
sterben.« Ich sehe mich um; niemand hat es gehört; die Eltern stehen
stumm vorgebeugt und erwarten mein Urteil; die Schwester hat einen
Stuhl für meine Handtasche gebracht. Ich öffne die Tasche und suche
unter meinen Instrumenten; der Junge tastet immerfort aus dem Bett
nach mir hin, um mich an seine Bitte zu erinnern; ich fasse eine
Pinzette, prüfe sie im Kerzenlicht und lege sie wieder hin. »Ja,« denke
ich lästernd, »in solchen Fällen helfen die Götter, schicken das fehlende
Pferd, fügen der Eile wegen noch ein zweites hinzu, spenden zum

Übermaß noch den Pferdeknecht --« Jetzt erst fällt mir wieder Rosa ein;
was tue ich, wie rette ich sie, wie ziehe ich sie unter diesem
Pferdeknecht hervor, zehn Meilen von ihr entfernt, unbeherrschbare
Pferde vor meinem Wagen? Diese Pferde, die jetzt die Riemen
irgendwie gelockert haben; die Fenster, ich weiß nicht wie, von außen
aufstoßen; jedes durch ein Fenster den Kopf stecken und, unbeirrt
durch den Aufschrei der Familie, den Kranken betrachten. »Ich fahre
gleich wieder zurück,« denke ich, als forderten mich die Pferde zur
Reise auf, aber ich dulde es, daß die Schwester, die mich durch die
Hitze betäubt glaubt, den Pelz mir abnimmt. Ein Glas Rum wird mir
bereitgestellt, der Alte klopft mir auf die Schulter, die Hingabe seines
Schatzes rechtfertigt diese Vertraulichkeit. Ich schüttle den Kopf; in
dem engen Denkkreis des Alten würde mir übel; nur aus diesem
Grunde lehne ich es ab zu trinken. Die Mutter steht am Bett und lockt
mich hin; ich folge und lege, während ein Pferd laut zur Zimmerdecke
wiehert, den Kopf an die Brust des Jungen, der unter meinem nassen
Bart erschauert. Es bestätigt sich, was ich weiß: der Junge ist gesund,
ein wenig schlecht durchblutet, von der sorgenden Mutter mit Kaffee
durchtränkt, aber gesund und am besten mit einem Stoß aus dem Bett
zu treiben. Ich bin kein Weltverbesserer und lasse ihn liegen. Ich bin
vom Bezirk angestellt und tue meine Pflicht bis zum Rand, bis dorthin,
wo es fast zu viel wird. Schlecht bezahlt, bin ich doch freigebig und
hilfsbereit gegenüber den Armen. Noch für Rosa muß ich sorgen, dann
mag der Junge recht haben und auch ich will sterben. Was tue ich hier
in diesem endlosen Winter! Mein Pferd ist verendet, und da ist niemand
im Dorf, der mir seines leiht. Aus dem Schweinestall muß ich mein
Gespann ziehen; wären es nicht zufällig Pferde, müßte ich mit Säuen
fahren. So ist es. Und ich nicke der Familie zu. Sie wissen nichts davon,
und wenn sie es wüßten, würden sie es nicht glauben. Rezepte
schreiben ist leicht, aber im übrigen sich mit den Leuten verständigen,
ist schwer. Nun, hier wäre also mein Besuch zu Ende, man hat mich
wieder
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