Ehstnische Märchen | Page 5

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eine
schmale Brücke geschlagen war, so daß die Männer nur einzeln herüber
konnten. Der Königssohn ritt eben mitten auf der Brücke, als mit dem
Winde das Hexenknäuel daher fuhr und wie eine Bremse auf das Pferd
traf. Das Pferd schnaubte vor Schreck, stellte sich plötzlich hoch auf
die Hinterbeine, und eh' noch jemand zu Hülfe kommen konnte, glitt
die Jungfrau vom Sattel herab jählings in den Fluß. Der Königssohn
wollte ihr nachspringen, aber die Krieger verhinderten ihn daran, indem
sie ihn festhielten; denn der Fluß war grundlos tief und menschliche
Hülfe konnte dem Unglück, das einmal geschehen war, doch nicht
mehr abhelfen.
Schrecken und tiefe Betrübnis hatten den Königssohn ganz betäubt; die
Krieger führten ihn gegen seinen Willen nach Hause zurück, wo er
Wochen lang in stiller Kammer über das Unglück trauerte, so daß er
anfangs nicht einmal Speise noch Trank zu sich nahm. Der König ließ
aus allen Orten von nah und fern Zauberer zusammenrufen, aber keiner
konnte die Krankheit erklären, noch wußte einer ein Mittel dagegen
anzugeben. Da sagte eines Tages des Windzauberers Sohn, der in des

Königs Garten Gärtnerbursch war: »Sendet nur nach Finnland, daß der
uralte Zauberer komme, der versteht mehr als die Zauberer eures
Landes.«
Alsbald sandte der König eine Botschaft an den alten Zauberer
Finnlands, und dieser traf schon nach einer Woche auf Windesflügeln
ein. Er sagte zum König: »Geehrter König! die Krankheit ist vom
Winde angeweht. Ein böses Hexen-Knäuel hat des Jünglings bessere
Herzenshälfte hingerafft, und darüber grämt er sich beständig. Schicket
ihn oft in den Wind, damit der Wind die Sorgen in den Wald treibt.«[7]
So kam es auch wirklich; der Königssohn fing an sich zu erholen,
Nahrung zu nehmen und Nachts zu schlafen. Zuletzt gestand er seinen
Eltern seinen Herzenskummer; der Vater wünschte, daß der Sohn
wieder auf die Freite gehen und ein junges Weib nach seinem Sinne
heim führen möchte, aber der Sohn wollte nichts davon wissen.
Schon über ein Jahr war dem Jüngling in Trauer verstrichen, als er
eines Tages zufällig an die Brücke kam, wo seine Liebste ihr Ende
gefunden hatte. Als er sich das Unglück in's Gedächtniß zurückrief,
traten ihm bittere Thränen in die Augen. Mit einem Male hörte er einen
schönen Gesang anstimmen, obwohl nirgends ein menschliches Wesen
zu sehen war. Die Stimme sang:
»Durch der Mutter Fluch beschworen Nahm das Wasser die Unsel'ge,
Barg das Wellengrab die Kleine, Deckte Ahti's[8] Fluth das Liebchen.«
Der Königssohn stieg vom Pferde und spähte nach allen Seiten, ob
nicht Jemand unter der Brücke versteckt sei, aber soweit sein Auge
reichte, war nirgends ein Sänger zu sehen. Auf der Wasserfläche
schaukelte zwischen breiten Blättern ein Teichröschen, das war der
einzige Gegenstand, den er erblickte. Aber ein schaukelndes Blümchen
konnte doch nicht singen, dahinter mußte irgend ein wunderbares
Geheimniß stecken. Er band sein Pferd am Ufer an einen Baumstumpf,
setzte sich auf die Brücke und lauschte, ob Auge oder Ohr nähere
Auskunft geben würden. Eine Zeitlang blieb Alles still, dann sang
wieder der unsichtbare Sänger:

»Durch der Mutter Fluch beschworen Nahm das Wasser die Unsel'ge,
Barg das Wellengrab die Kleine, Deckte Ahti's Fluth das Liebchen.«
Wie dem Menschen nicht selten ein guter Gedanke unerwartet vom
Winde zugeweht wird, so geschah es auch hier. Der Königssohn dachte:
wenn ich ungesäumt zur Waldhütte reite, wer weiß, ob mir nicht die
Goldspinnerinnen diesen wunderbaren Fall deuten können. So stieg er
zu Pferde und schlug den Weg zum Walde ein. An den früheren
Zeichen hoffte er sich leicht zurecht zu finden, allein der Wald war
gewachsen und er hatte über einen Tag lang zu suchen, ehe er auf den
Fußsteig gelangte. In der Nähe der Hütte hielt er an, um zu warten, ob
eine der Jungfrauen herauskommen würde. Früh Morgens kam die
älteste Schwester zur Quelle, um sich das Gesicht zu waschen. Der
Jüngling trat näher, erzählte das Unglück, welches sich voriges Jahr auf
der Brücke zugetragen, und was für einen Gesang er vor einigen Tagen
dort gehört habe. Die alte Mutter war glücklicher Weise gerade nicht
daheim, deßwegen lud die Jungfrau den Königssohn in's Haus. Als die
Mädchen die ausführliche Erzählung angehört hatten, begriffen sie
ohne Weiteres, daß das Unglück des vorigen Jahres durch ein
Hexenknäuel der Mutter entstanden war, und daß die Schwester jetzt
noch nicht gestorben sei, sondern in Zauberbanden liege. Die älteste
Schwester fragte: »Ist euren Blicken auf dem Wasserspiegel nichts
begegnet, was einen Gesang hätte können ertönen lassen?« »Nichts,«
erwiederte der Königssohn. »So weit mein Auge reichte, war auf dem
Wasserspiegel nichts weiter zu sehen, als ein gelbes Teichröschen
zwischen breiten Blättern, aber Blümchen und Blätter können doch
nicht singen.« Die Töchter muthmaßten sogleich, daß das Teichröschen
nichts Anderes sein könne, als ihre in den Wellen versunkene und
durch Hexenkunst in ein Blümchen verwandelte Schwester. Sie wußten,
wie die alte Mutter das fluchbehaftete Hexenknäuel hatte fliegen lassen,
welches die Schwester, wenn es
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