Die Witwe von Pisa | Page 2

Paul Heyse
vierzehn Maultieren in kurzem Trabe
die breite Straße des Mont Cenis hinaufgeschleppt wurde. Obwohl der
Himmel herrlich ausgestirnt war, lag doch nur ein schwacher Schein
auf den Tälern zur Seite des Weges, aus denen die schweren Wipfel der
Kastanien heraufragten, so daß man auf den Genuß der Aussicht
verzichten mußte. Und da Peitschenknall, Zuruf der Maultiertreiber, die
neben ihren langgespannten Tieren bergan liefen, und das hundertfache
Schellengeläute auch einen gesunden Schlaf nicht aufkommen ließen,
mußte ein deutscher Schriftsteller noch zufrieden sein, wenn er
dreitausend Fuß über dem Meeresspiegel einen so wohlwollenden

Rezensenten neben sich fand, wie mein Coupénachbar bei aller
Meinungsverschiedenheit zu sein schien. Wir waren schon von Turm
aus die Bahnstrecke bis ans Gebirge zusammen gefahren, schweigsam
jeder in einen Winkel gedrückt. Erst der Namensaufruf bei der
Verteilung der Plätze hatte das Eis gebrochen, da wir uns beide nicht
ganz fremd waren.
Kennen Sie Pisa? fragte er, nachdem er seine Zigarre an der Pfeife des
Franzosen angezündet hatte.
Ich erzählte ihm, daß ich erst vor kurzem volle vierzehn Tage in dieser
stillsten aller Universitätsstädte der Welt Studierens halber zugebracht
hätte.
Nun, dann kennen Sie am Ende meine Witwe vom Sehen oder doch
vom Hören. Sind Sie nie in der breiten Straße, die der Borgo heißt, an
einem Hause mit grünen Jalousien vorbeigekommen und haben aus
einem Fenster des ersten Stockwerkes eine schmetternde Sopranstimme
jenes Duett aus der "Norma" singen hören: Ah sin' all' ore all' ore
estreme--?
Ich verneinte.
Danken Sie Ihrem Schöpfer, sagte er mit einem Seufzer, der aus einer
hartgeprüften Brust zu kommen schien. Sehen Sie, diese Stimme war
mein Verderben. Ich bin leider ganz unmusikalisch, sonst hätte sie
mich vielleicht gewarnt, statt mich ins Netz zu locken. Aber wenn man
in ein paar Dutzend unsäuberlichen Studentenwohnungen
herumgekrochen ist--die besseren möblierten Zimmer waren, mitten im
Semester, schon längst vergeben--, und hört dann aus einem reinlichen
Hause, an dem der Mietszettel hängt, eine Frauenstimme flöten, so
werden Sie begreifen, daß man eine Stimme des Himmels zu
vernehmen glaubt, auch wenn man ein besserer Musikus ist als ich. Ich
muß aber erst voranschicken, was ich eigentlich in Pisa zu suchen hatte.
Sehen Sie, das hängt so zusammen. Ich bin Architekt, wie Sie wissen.
In dem kleinen deutschen Raubstaat, den ich als mein engeres, leider
viel zu enges Vaterland pflichtschuldigst liebe und ehre, bin ich, ohne
Ruhm zu melden, so ziemlich der einzige meines Faches, der etwas zu

bauen versteht, was über die landläufigen Menschenställe von drei
Stockwerken hinausgeht. Wenn Sie einmal durch N. kommen sollten,
versäumen Sie nicht, unser neues Zeughaus anzusehen, worin die
sieben Landeskanonen sorgfältig unter Schloß und Riegel gehalten
werden, damit sie nicht über die Landesgrenze wegschießen. Dieses
Arsenal habe ich gebaut und mir dadurch nicht nur den Dank des
Vaterlandes, sondern auch die besondere Gunst unseres Serenissimus
erworben. Wenn er noch einmal seinen Lieblingsplan ausführt, eine
Mauer um sein Land aufführen zu lassen nach dem Muster der
chinesischen, kann ich dieses ruhmreichen Auftrages sicher sein.
Vorläufig hat er mir seine Huld auf eine unscheinbarere, aber mir
angenehmere Weise bezeigt, indem er mich mit einem
wissenschaftlichen Auftrage nach Italien schickte. Wir besitzen
nämlich als eine der Hauptsehenswürdigkeiten unserer Residenz mitten
im Schloßpark einen schiefen Turm. Böswillige, unpatriotische
Menschen behaupten, es sei mit dieser künstlerischen Merkwürdigkeit
sehr natürlich zugegangen, da ein später angelegter Karpfenteich in der
Nähe dieses ehemaligen Wachttürmchens den Boden ringsumher
aufgeweicht und so die Senkung verursacht habe. Man kann unseren
Landesvater nicht stärker beleidigen, als wenn man diese
hochverräterische Meinung äußert. Als er daher eines Tages auch mich
um mein sachverständiges Urteil befragte, war ich Diplomat genug, zu
antworten, ich sei, da ich Italien nicht kenne, außerstande,
nachzuweisen, in welchem historischen Zusammenhange unser schiefer
Turm mit den berühmteren von Pisa, Bologna, Modena u.s.w. stehen
möchte. Nur ein umfassendes Studium des gesamten mittelalterlichen
Schiefbaues könne zu einer gerechten Würdigung unserer heimatlichen
monumentalen Romantik das Material liefern. Das wirkte. Schon Tags
darauf erhielt ich durch Kabinettsschreiben den allerhöchsten Auftrag,
eine Kunstreise nach Italien auf ein ganzes Jahr anzutreten, um auf
Kosten der Kabinettskasse Studien zu einem umfassenden Werk über
die schiefen Türme Italiens und Deutschlands zu machen. Ich ging um
so freudiger darauf ein, weil ich mich vor kurzem verlobt hatte und
ohne eine solche höhere Mission mich schwerlich so bald losgerissen
hätte, das gelobte Land endlich mit Augen zu sehen, was ich doch
meinem Beruf längst schuldig gewesen wäre.

Erlauben Sie mir zu bemerken, sagte ich, daß nach diesen Mitteilungen
Ihre Erfahrungen mit italienischen Mädchen und Frauen mir nicht mehr
so beweiskräftig scheinen wie vorher. Ein deutscher Bräutigam, der
besonders auf alles Schiefgewachsene sein Augenmerk zu richten
hat-Im allerhöchsten Auftrage! fiel er mir lachend ins Wort. Aber ein
Jahr ist lang, und sowohl der Herr des Landes als die Herrin meines
Herzens werden es verzeihlich finden, daß ich mich in den
Mußestunden auch mit geradegewachsenen Schönheiten beschäftigt
habe.
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