Die Leiden des jungen Werther vol 1 | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
ihre Furcht mit anma?licher Wetterkunde, ob mir gleich selbst zu ahnen anfing, unsere Lustbarkeit werde einen Sto? leiden.
Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. in dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein M?dchen von sch?ner Gestalt, mittlerer Gr??e, die ein simples wei?es Kleid, mit bla?roten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab's jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein "danke!", indem es mit den kleinen H?ndchen lange in die H?he gereicht hatte, ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt entweder wegsprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen davonging nach dem Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen, darin ihre Lotte wegfahren sollte.--"Ich bitte um Vergebung", sagte sie, "da? ich Sie hereinbemühe und die Frauenzimmer warten lasse. über dem Anziehen und allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner Abwesenheit habe ich vergessen, meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von niemanden Brot geschnitten haben als von mir".
Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit, mich von der überraschung zu erholen, als sie in die Stube lief, ihre Handschuhe und den F?cher zu holen. Die Kleinen sahen mich in einiger Entfernung so von der Seite an, und ich ging auf das jüngste los, das ein Kind von der glücklichsten Gesichtsbildung war. Es zog sich zurück, als eben Lotte zur Türe herauskam und sagte:"Louis, gib dem Herrn Vetter eine Hand".--das tat der Knabe sehr freimütig, und ich konnte mich nicht enthalten, ihn, ungeachtet seines kleinen Rotzn?schens, herzlich zu küssen.
"Vetter?" sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte," glauben Sie, da? ich des Glücks wert sei, mit Ihnen verwandt zu sein?"--"O", sagte sie mit einem leichtfertigen L?cheln, "unsere Vetterschaft ist sehr weitl?ufig, und es w?re mir leid, wenn Sie der schlimmste drunter sein sollten".--Im Gehen gab sie Sophien, der ?ltesten Schwester nach ihr, einem M?dchen von ungef?hr elf Jahren, den Auftrag, wohl auf die Kinder acht zu haben und den Papa zu grü?en, wenn er vom Spazierritte nach Hause k?me. Den Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer Schwester Sophie folgen, als wenn sie's selber w?re, das denn auch einige ausdrücklich versprachen. Eine kleine, naseweise Blondine aber, von ungef?hr sechs Jahren, sagte: "du bist's doch nicht, Lottchen, wir haben dich doch lieber".--die zwei ?ltesten Knaben waren hinten auf die Kutsche geklettert, und auf mein Vorbitten erlaubte sie ihnen, bis vor den Wald mitzufahren, wenn sie verspr?chen, sich nicht zu necken und sich recht festzuhalten.
Wir hatten uns kaum zurecht gesetzt, die Frauenzimmer sich bewillkommt, wechselsweise über den Anzug, vorzüglich über die Hüte ihre Anmerkungen gemacht und die Gesellschaft, die man erwartete, geh?rig durchgezogen, als Lotte den Kutscher halten und ihre Brüder herabsteigen lie?, die noch einmal ihre Hand zu küssen begehrten, das denn der ?lteste mit aller Z?rtlichkeit, die dem Alter von fünfzehn Jahren eigen sein kann, der andere mit viel Heftigkeit und Leichtsinn tat. Sie lie? die Kleinen noch einmal grü?en, und wir fuhren weiter.
Die Base fragte, ob sie mit dem Buche fertig w?re, das sie ihr neulich geschickt h?tte.--"nein", sagte Lotte,"es gef?llt mir nicht, Sie k?nnen's wiederhaben. Das vorige war auch nicht besser".--Ich erstaunte, als ich fragte, was es für Bücher w?ren, und sie mir antwortete:--ich fand so viel Charakter in allem, was sie sagte, ich sah mit jedem Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes aus ihren Gesichtszügen hervorbrechen, die sich nach und nach vergnügt zu entfalten schienen, weil sie an mir fühlte, da? ich sie verstand.
"Wie ich jünger war", sagte sie, "liebte ich nichts so sehr als Romane. Wei? Gott, wie wohl mir's war, wenn ich mich Sonntags in so ein Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an dem Glück und Unstern einer Mi? Jonny teilnehmen konnte. Ich leugne auch nicht, da? die Art noch einige Reize für mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch komme, so mu? es auch recht nach meinem Geschmack sein. Und der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und herzlich wird als mein eigen h?uslich Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle uns?glicher Glückseligkeit ist".
Ich bemühte mich, meine Bewegungen über diese Worte zu verbergen. Das ging freilich nicht weit: denn da ich sie mit solcher Wahrheit im Vorbeigehen vom Landpriester von
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 25
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.