wenn du so alt und schrumpflich bist,
wenn ihr nur zusammen seid!
WILHELM (sein Herz haltend, halb für sich). Wenn du das aushältst,
bist du nie wieder zu enge.
MARIANNE. Dir ist's nun wohl nicht so; du nimmst doch wohl eine
Frau mit der Zeit, und es würde mir immer leid tun, wenn ich sie auch
noch so gern lieben wollte--Es hat dich niemand so lieb wie ich; es
kann dich niemand so lieb haben. (Wilhelm versucht zu reden.) Du bist
immer so zurückhaltend, und ich hab's immer im Munde, dir ganz zu
sagen, wie mir's ist, und wag's nicht. Gott sei Dank, daß mir der Zufall
die Zunge löst.
WILHELM. Nichts weiter. Marianne!
MARIANNE. Du sollst mich nicht hindern, laß mich alles sagen! Dann
will ich in die Küche gehen und tagelang an meiner Arbeit sitzen, nur
manchmal dich ansehen, als wollt' ich sagen: du weißt's!--(Wilhelm
stumm in dem Umfange seiner Freuden.) Du konntest es lange wissen,
du weißt's auch, seit dem Tod unserer Mutter, wie ich aufkam aus der
Kindheit und immer mit dir war.--Sieh, ich fühle mehr Vergnügen, bei
dir zu sein, als Dank für deine mehr als brüderliche Sorgfalt. Und nach
und nach nahmst du so mein ganzes Herz, meinen ganzen Kopf ein,
daß jetzt noch etwas anders Mühe hat, ein Plätzchen drin zu gewinnen.
Ich weiß wohl noch, daß du manchmal lachtest, wenn ich Romanen las;
es geschah einmal mit der Julie Mandeville, und ich fragte, ob der
Heinrich, oder wie er heißt, nicht ausgesehen habe wie du?--Du
lachtest--das gefiel mir nicht. Da schwieg ich ein andermal still. Mir
war's aber ganz ernsthaft; denn was die liebsten, die besten Menschen
waren, die sahen bei mir alle aus wie du. Dich sah ich in den großen
Gärten spazieren, und reiten, und reisen, und sich duellieren--(Sie lacht
für sich.)
WILHELM. Wie ist dir?
MARIANNE. Daß ich's ebensomehr auch gestehe: wenn eine Dame
recht hübsch war und recht gut und recht geliebt--und recht
verliebt--das war ich immer selbst.--Nur zuletzt, wenn's an die
Entwicklung kam und sie sich nach allen Hindernissen noch
heirateten--Ich bin doch auch gar ein treuherziges, gutes, geschwätziges
Ding!
WILHELM. Fahr fort! (Weggewendet.) Ich muß den Freudenkelch
austrinken. Erhalte mich bei Sinnen, Gott im Himmel!
MARIANNE. Unter allem konnt' ich am wenigsten leiden, wenn sich
ein paar Leute liebhaben, und endlich kommt heraus, daß sie verwandt
sind, oder Geschwister sind--Die Miß Fanny hätt' ich verbrennen
können! --Ich habe so viel geweint! Es ist so ein gar erbärmlich
Schicksal!
(Sie wendet sich und weint bitterlich.)
WILHELM (auffahrend an ihrem Hals). Marianne! meine Marianne!
MARIANNE. Wilhelm! nein! nein! Ewig lass' ich dich nicht! Du bist
mein!--Ich halte dich! ich kann dich nicht lassen!
(Fabrice tritt auf.)
MARIANNE. Ha, Fabrice, Sie kommen zur rechten Zeit! Mein Herz ist
offen und stark, daß ich's sagen kann. Ich habe Ihnen nichts zugesagt,
Sei'n Sie unser Freund! heiraten werd' ich Sie nie.
FABRICE (kalt und bitter). Ich dacht' es, Wilhelm, wenn du dein
ganzes Gewicht auf die Schale legtest, mußt' ich zu leicht erfunden
werden. Ich komme zurück, daß ich mir vom Herzen schaffe, was doch
herunter muß. Ich gebe alle Ansprüche auf und sehe, die Sachen haben
sich schon gemacht; mir ist wenigstens lieb, daß ich unschuldige
Gelegenheit dazu gegeben habe.
WILHELM. Lästre nicht in dem Augenblick und raub dir nicht ein
Gefühl, um das du vergebens in die weite Welt wallfahrtetest! Siehe
hier das Geschöpf--sie ist ganz mein--und sie weiß nicht--
FABRICE (halb spottend). Sie weiß nicht?
MARIANNE. Was weiß ich nicht?
WILHELM. Hier lügen, Fabrice--?
FABRICE (getroffen). Sie weiß nicht?
WILHELM. Ich sag's.
FABRICE. Behaltet einander, ihr seid einander wert!
MARIANNE. Was ist das?
WILHELM (ihr um den Hals fallend). Du bist mein, Marianne!
MARIANNE. Gott! was ist das?--Darf ich dir diesen Kuß
zurückgeben?-- Welch ein Kuß war das, Bruder?
WILHELM. Nicht des zurückhaltenden, kaltscheinenden Bruders, der
Kuß eines ewig einzig glücklichen Liebhabers.--(Zu ihren Füßen.)
Marianne, du bist nicht meine Schwester! Charlotte war deine Mutter,
nicht meine.
MARIANNE. Du! du!
WILHELM. Dein Geliebter!--von dem Augenblicke an dein Gatte,
wenn du ihn nicht verschmähst.
MARIANNE. Sag mir, wie war's möglich?--
FABRICE. Genießt, was euch Gott selbst nur einmal geben kann!
Nimm es an, Marianne, und frag nicht.--Ihr werdet noch Zeit genug
finden, euch zu erklären.
MARIANNE (ihn ansehend). Nein, es ist nicht möglich!
WILHELM. Meine Geliebte! meine Gattin!
MARIANNE (an seinem Hals). Wilhelm, es ist nicht möglich!
Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes "Die Geschwister" von Johann
Wolfgang von Goethe.
Die Geschwister
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